Ambivalenzen stehen lassen - oder: Von Widersprüchen und Zwischentönen
Zur interkulturellen Haltung des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer
Der deutsche Islamwissenschaftler Thomas Bauer interessiert sich offenbar auch für Sport - und hat herausgefunden, dass Sportarten, in denen nicht eindeutig gewonnen oder verloren werden muss, sondern auch ein Unentschieden möglich ist, in den USA extrem unbeliebt sind. Die Amis wollen: entweder-oder; nichts dazwischen. Dann wäre ja etwas unklar. Die Amerikaner lieben Klarheit.
Nicht immer kommen Amerikaner mit entsprechenden Signalen gut an. Schon in Europa kann dies schwierig werden, wie das Klischee vom lauten, dominanten, selbstgerechten US-Amerikaner anzeigt. Erst recht in Kulturen, wo man diese Eindeutigkeit nicht so schätzt, weil Zwischentöne, Ungesagtes, nur Angedeutetes durch solche Eindeutigkeit unterdrückt und verdrängt wird. Da ja alle so kommunizieren, wie sie es in ihrer Kindheitsumgebung einfach durch Imitation gelernt haben, denken sie ja, alles richtig zu machen. Sie können nur schwer auf die Idee kommen, dass man auch anders kommunizieren kann und soll. Die einen lernen, man solle laut und direkt sein, sogar andere unterbrechen, um sich bemerkbar zu machen; die anderen hingegen lernen, leise zu sein, nie zu direkt zu sprechen, zu warten, bis sich eine geziemende Lücke ergibt. Amerikaner*innen lernen meist das eine, Japaner*innen das andere. Wer indirekte Kommunikation gelernt hat, ist in der Regel sensibler für Zwischentöne, für Andeutungen, für Ambivalentes, für Unentschiedenes.
Anders als wir angesichts der veröffentlichten Meinungen vermuten würden, sind islamische Kulturen lange uneindeutig und widerspruchstolerant gewesen. Als Historiker zeigt Bauer auf, dass ausdrücklich unterschiedliche Koran-Interpretationen in den Reichen der Kalifen seit dem 9. Jahrhundert (christlicher Kalenderzählung) koexistieren konnten und sollten: Die Vielheit in der Allwissenheit und Allmächtigkeit Allahs ertrug die Heterogenität der Interpretationen, die jeweils einen Teil Gottes widerspiegelten. Mangels eines zentralen Lehramtes, wie es die europäischen Großkirchen durch Papsttum und Konzilien sowie seit der Frühen Neuzeit durch protestantisches Staatskirchentum ausgebildet hatten, gab es niemanden, der zwischen den widersprüchlichen Interpretationen verbindlich die für alle gültige auswählen konnte - nicht einmal die als besondere Autorität geltenden Gelehrten der Universität Al-Azhar in Kairo.
Tendenzen zur fundamentalistischen Vereindeutigung im Islam jedoch bildeten sich erst im 19. Jahrhundert heraus - reagierend zum einen auf die unübersehbare technologische Unterlegenheit gegenüber den westlichen Kolonialmächten, aufgreifend zum anderen den Trend zu massenwirksamen Erweckungsbewegungen in christlichen Konfessionen des 19. Jahrhunderts.
Bauer profiliert hingegen für die Zeit vom 8. bis zum 18. Jahrhundert eine islamische Interpretations-Kultur, die Ambiguitäten bejaht und als Teil der Vielheit Gottes positiv bewertet - im Gegensatz zu einer westlich-christlichen Entwicklung, die zu theoretischer Eindeutigkeit sowie zu argumentativ stimmigen Theoriegebäuden unter Abschleifen von Unstimmigkeiten tendiert und folglich den radikalen Kampf gegen Häresien (Abweichung von der lehramtlichen Deutung) bis hin zu Hexenverfolgungen und konfessionell aufgeladenen Kriegen geradezu herbeizwingt. Das fast völlige Fehlen von Ketzerverfolgungen vor dem 19. Jahrhundert in der islamischen Welt scheint Bauers Profilierung eines ambiguitätstoleranten Islam zu stützen: Widersprüche aushalten und akzeptieren - statt sie wegzudefinieren oder womöglich auszumerzen.
Vor dieser Folie einer ambiguitätstoleranten Kultur zeichnet Bauer ein kritisches Bild unserer globalisierten, angeblich so vielfältigen Moderne. Er sieht unsere Moderne trotz Globalisierung als eine immer uniformer werdende Welt, die Vielfalt abtöte: Statt 20000 Apfelsorten nur noch 6, Sterben der kleinen Sprachen, Abnahme der biologischen Vielfalt auf der Erde seit 1970 um ein Drittel, die Monotonisierung der Städte mit weltweit den gleichen Fast-Food-Ketten, Flughafen- und Hotelarchitekturen usw. Die Homologisierung von kapitalistischer Konsumkultur simuliere zwar Vielfalt (z.B. durch vielhundertfache Fernsehsender), produziere aber in Wirklichkeit öde Einheitlichkeit (z.B. aufgrund der Gleichartigkeit von Sendungen und ihrer Ästhetiken). Ganz zu schweigen von der unbemerkten Steuerung von Teilen unseres Alltagslebens durch die Algorithmen Googles, Facebooks und Amazons, welche ja auf der Vereindeutigung von Signalen basieren.
Wie immer Sie über Bauers Kulturkritik im Einzelnen oder im Ganzen denken: Bauer profiliert für uns die Möglichkeit, die Welt anders zu sehen, als wir als „westlich Sozialisierte“ in der Regel gewohnt sind. Bauer bietet uns - auf seine spezielle Fachkompetenz zurückgreifend - eine Haltung an, Widersprüchen anders zu begegnen: sie aktiv statt duldend auszuhalten.
Indirekt legt Bauer für uns ein Instrument bereit, interkulturelle Abstände zu beschreiben und mit einer anderen Brille zu sehen als der gewohnten. Allein das kann Fehlurteile und Konfliktdynamiken bremsen: Denn das Wissen darum, dass es unterschiedliche Grade zwischen Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit, zwischen direkter und indirekter Kommunikation gibt, erlaubt uns, bewusst eine situationsangemessene Denk- und Verhaltensstrategie zu wählen.
Selbst-Verstehen und Fremd-Verstehen geraten in Bewegung, wenn Sie sich auf Bauers Konzept der „Ambiguitätstoleranz“ einlassen: Das ist eine gute Voraussetzung, um in interkulturelle Situationen hineingehen zu können - sei es im Geschäftsleben, sei es auf Privatreisen, sei es in multikulturell zusammengesetzten Teams.
Bauer wird neben Jullien wird eine wichtige Figur in dieser sommerlichen Denkwoche sein: Auch er öffnet unsere Sensibilität und Vorstellungskraft dafür, was es heißen kann, ganz anders zu denken.
Eine weitere Figur, die ich für Sie im nächsten Blog zur Denkwoche „Einander verstehen - Nachdenken über interkulturelle Begegnung“ skizzieren werde, ist der karibisch-französische Literat Édouard Glissant unter dem Motto „Dem Versteckten nachspüren“.
Je nach Ihrem Interesse können in dieser Denkwoche auch weitere Autoren wie Homi Bhabha (der „Dritte Raum“), Andreas Reckwitz („Hyper-Kultur“) und Frank Griffel („Ambiguitätstoleranz“) zur Sprache kommen. Alternativ biete ich Ihnen einige Übungen zur praktischen Anwendung interkulturellen Verstehens an - z.B. zu direkter und indirekter Kommunikationsweise, zum Verhältnis zu Hierarchien und Statusunterschieden, zu Hintergrundhaltungen im Umgang mit Zeit und Absprachen.
Jedenfalls freut sich auf Sie auf Château d’Orion mit Pyrenäenblick vom So., 26.7. - Sa., 1.8.2020.
Dr. Friedemann Scriba
www.scriba.berlin