Annie Ernaux: „Écrire la vie“
Eine Lesereise mit Prof. Dr. Rainer Moritz
Wochen bevor Annie Ernaux im Oktober 2022 der Literaturnobelpreis verliehen werden wird, tauchten wir als Teilnehmende an dieser literarischen Denkwoche, geschützt vor der glühenden Augustsonne in der schattigen Grange, tief in ihr Werk ein – es brachte uns zum Reflektieren, Diskutieren, manchmal trieb es uns die Schamesröte ins Gesicht. Die Denkwoche, geleitetet von dem sympathischen Leiter des Literaturhauses Hamburg, Rainer Moritz, gewährte somit einer, teils heterogenen, Gruppe von Literaturinteressierten nicht nur Einblicke in Literaturtheorie und zeitgenössische Literaturrezeption, nein – es ging auch und vor allem darum, welches Echo ihr besonderes Werk in uns findet.
Die französische Schriftstellerin, Jahrgang 1940, gehört mit ihrem autofiktionalen Werk zweifelsohne – nicht erst seit dem 06. Oktober – zu den wichtigsten Figuren der französischen Gegenwartsliteratur. In Deutschland hat sie erst eine späte Rezeption erfahren: Erst als die breite Masse sich für sogenannte autofiktionale Literatur zu begeistern beginnt, wird ein Großteil Ernaux´ Werk von Sonja Finck übersetzt. Zu nennen ist im gleichen Atemzuge beispielsweise Didier Eribons Rückkehr nach Reims, ähnlich öffentlichkeitswirksam. Ernaux´ Ansatz ist dabei erkenntnistheoretisch; so werde das Leben, die Essenz der Dinge, erst durch das Schreiben gänzlich erfahrbar. Im Sinne der Autofiktion erfindet sie sich selbst durch den Schreibprozess.
Ihr Werk besteht aus einem Geflecht aus Politischem und Privatem, Zeitgeschichte und Intimen. Ihr Schreiben ist geprägt von dem Versuch, die Waage zwischen einer soziologischen Darstellungsweise und individuellen Erinnerungen zu halten. Zwischen der Autorin und dem Rezipienten besteht eindeutig ein, wie Philippe Lejeune es nennt, pacte autobiographique: Die autobiographische Natur ihres Schreibens ist zu keinem Zeitpunkt anzuzweifeln. Der 1984 erschienene Text Der Platz beispielsweise ist unter anderem ein Versuch, den eigenen Vater zu verstehen, indem er in seinem sozialen Kontext beschrieben wird, seinem Platz.
Die Lektüre ihrer Texte Der Platz, Eine Frau, Die Jahre und Erinnerungen eines Mädchens waren für alle Teilnehmenden Anlass, intensiv nachzudenken, während der Woche, aber noch lange darüber hinaus: Beispielsweise über Ernaux´ Wechselspiel zwischen einer scheinbar distanzierten Perspektive in stilistischer Hinsicht und hoch emotionalem autobiographischem Stoff. Ihre écriture plate ist zum einen Ausdruck sozialer Herkunft, eines Lebens der Notwendigkeit, zum anderen aber auch bewusste Distanznahme, um das eigentlich Unsagbare sagbar zu machen. Ernaux weigert sich in ihren erzähltheoretischen Fußnoten gegen das Romanhafte. Ihr Schreiben, teils auf Basis von Fotos und Dokumenten, gleicht manchmal einer Aneinanderreihung objektiver Beweise. Der Versuch, den Vater poetisch aufzuladen, wäre sowohl eine ästhetische als auch eine ethisch-moralische Verfehlung. Pathetische Erinnerungsbilder sollen abgestreift werden. Es geht ihr nicht um Literatur, sondern um Wahrheitsfindung.
Vor allem aber, und dies hat die Denkwoche besonders geprägt, regt eine Beschäftigung mit ihrem Werk dazu an, das eigene Leben zu reflektieren: Sich mitunter zu fragen, inwieweit die eigene Biografie nicht Teil einer kollektiven Erfahrung und einer Normierung durch die soziale Klasse ist. Ganz im Sinne Prousts, einem wichtigen Einfluss für Ernaux, nach dem jeder Leser ein Leser seiner selbst sei. Es sind vor allem die konkreten kulturell-historischen Bezüge, beispielsweise in ihrem Text Die Jahre (2008) die im Leser widerhallen. Verlieren individuelle Erinnerungen an Wert, wenn wir sie mit einer ganzen Generation, einem ganzen Geschlecht, einem ganzen Land teilen? Die geteilte Erinnerung an Scarlett O´Haras Gesicht auf einem flimmernden Röhrenfernseher kann uns zum Schmunzeln bringen, aber wie verhält es sich, wenn wir merken, dass selbst unsere intimsten Gedanken weniger individuell erscheinen, als wir es uns einbilden? Dem Leser wird bewusst, inwieweit scheinbar Individuell-Intimes wie Sexualität, Körperfeindlichkeit, Religionsausübung Ausdruck von Prägung ist.
Ernaux provoziert, gewollt. Die Kontroversen in ihrem Werk lösen (intergenerationelle) Diskussionen aus: Wie geht man als Individuum wie auch als Gruppe mit Schuld und Scham um? Kann man Feminismus konsequent leben? Was "darf" Literatur? Zu einer besonders regen Diskussion kam es bei der gemeinsamen Besprechung von Erinnerung eines Mädchens. Ernaux erzählt von einer traumatischen sexualisierten Erfahrung in Jugendjahren und versucht durch den Gebrauch der 3. Person Singular das Mädchen, das sie gewesen ist, zu dekonstruieren. Übrig bleiben Fragmente, die wir oft nur als Begriffe fassen können und die viele Fragen aufwerfen: Schuld, Scham, und Schande; Sexualität und Sexualisierung; Sozialisation. Die große Stärke dieser Denkwoche war der ständige Austausch in einem geschützten Rahmen, und dies auf verschiedenen Ebenen. Die Gruppe hat es geschafft, zwar zum einen reflektiert über Literatur zu sprechen, aber zum anderen auch persönliche Geschichten auszutauschen, Gemeinsamkeiten und Differenzen zu erkennen, zu politisieren, und – wie wäre es bei dem Lebenswerk „Écrire la vie“ auch anders möglich - auch einmal emotional zu werden. Bei einer abendlichen Lesung von dem kürzlich erschienenen Le jeune homme ist vor allem eines klar geworden: Annie Ernaux zu lesen ist noch viel bereichernder, wenn wir es als Gruppe tun.
Dieses Vertrauen unter den Teilnehmenden ist zu großen Teilen der gelebten Devise des Châteaus zu verdanken: Geist, Genuss, Geselligkeit. Der Referent Prof. Dr. Rainer Moritz, Leiter des Literaturhauses Hamburg, ist nicht nur fachlich und didaktisch kompetent, sondern sorgte auch mit seinen vielseitigen Interessen und seinem Humor für Geselligkeit, auch bei dem Tagesausflug nach San Sebastián. Für Genuss sorgte die spanische Köchin Amor Gonzalez, deren mediterrane Kreationen wir jeden Abend unter den Platanen mit Pyrenäenblick genießen durften. Und zu guter Letzt die Offenheit und Menschenfreundlichkeit von Elke und Tobias Premauer, die Wandel durch diese Art der Begegnung erst ermöglichen. Es handelt sich um eine Woche, die noch lange in Erinnerung bleiben wird – daher auch großen Dank an den Freundeskreis Château d´Orion, die mir als Studentin eine solche Erfahrung erst ermöglichte.
Marie Mühleck, Praktikantin und Stipendiatin, August 2022