Was macht Geschichte mit uns?
In diesem Beitrag wollen wir durch ein anderes Beispiel zeigen, wie verschiedene Betrachtungen von Geschichte auch zu unterschiedlichen Betrachtungen unserer Gegenwart und Zukunft führen können. Wir hoffen, Sie dabei auf einen in der deutschen Öffentlichkeit vernachlässigten Bestandteil der gesamteuropäischen Geschichte aufmerksam zu machen, der interessante Implikationen für unsere Gegenwart und Zukunft hat.
Nebenbei möchten wir zeigen, dass die Identifikation der eigenen Vorfahren mit berühmten Helden aus längst vergangenen Zeiten im antiken und mittelalterlichen Europa weit verbreitet gewesen ist. Fast alle diese Helden kamen ursprünglich nicht aus demjenigen Land, in welchem sie sich letzten Endes niederlassen konnten. Dies kann einer noch nicht abgeschlossenen Debatte über das 'Einwanderungsland Deutschland' gegenübergestellt werden.
Deutschland Einwanderungsland
Nicht selten geht es in unseren Tagen um die Fragen, wer oder was eigentlich zu Deutschland oder Europa gehört und wer oder was nicht. Über die Zweckmäßigkeit dieser Fragen möchten wir uns nicht auslassen.
Hier ist für uns allein bemerkenswert, dass sie regelmäßig mit Argumenten aus der Schatztruhe der Geschichte beantwortet werden sollen. So resümiert Karl-Heinz Meier-Braun, der Herausgeber eines Buches mit dem knappen Titel Deutschland Einwanderungsland:
"Wir haben das wieder einmal geschaftt!“ Das könnte eigentlich im Herbst 2016 die Schlagzeile sein, nachdem die sogenannte „Flüchtlingskrise“ einigermaßen bewältigt wurde. … Von 1,1 Millionen Flüchtlingen war lange Zeit die Rede, die 2015 ins Land gekommen sein sollen. Vor ähnlichen Herausforderungen durch die Zuwanderung hatte das Land bereits verschiedene Male gestanden, beispielsweise als nach dem Zweiten Weltkrieg rund 12,5 Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene Zuflucht in Westdeutschland fanden. Oder als seit Mitte der 1950er-Jahre Millionen von sogenannten „Gastarbeitern“ ins Land geholt wurden, die es zu integrieren galt. In der aufgeheizten Debatte der letzten Monate geriet dies alles genauso in Vergessenheit wie auch die Tatsache, dass bereits Anfang der 1990er-Jahre rund eine halbe Million Asylanträge gestellt wurden. Fünf Millionen Spätaussiedler wurden im Laufe der Jahre aufgenommen. Die Beispiele zeigen: Deutschland ist schon seit langem ein Einwanderungsland, auch wenn das immer mal wieder in Frage gestellt wird.
Das Zitat stammt aus dem Jahr 2016. Andere Menschen sind anderer Auffassung.
2014 ließ der Geschichtslehrer und Politiker (Mitglied der 'Alternative für Deutschland') Björn Höcke durch einen Pressesprecher folgende Aussagen verbreiten:
„Deutschland ist kein Einwanderungsland. Daher darf auch die Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme von ernstzunehmenden Politikern keine Unterstützung erfahren. Diese Haltung der AfD ist Ausdruck gesunden Menschenverstandes.“
Recht hat er damit, dass Deutschland bisher nicht als 'klassisches Einwanderungsland' gilt.
Ein offensichtliches Problem hat sein Argument dennoch: Wenn Björn Höcke nicht behaupten möchte, dass die Bevölkerung Deutschlands wie eine Pflanze aus 'deutschem' Boden erwachsen ist, dann sollte er auch zugeben, dass sie von irgendwoher eingewandert sein muss.
Tacitus: Germanen waren Migranten
Was heute 'deutsch' genannt wird, das hat nicht mehr viel mit jenen Germanen zu tun, welche der Römer Tacitus im 1. Jahrhundert n. Chr. beschrieben hat. Viel schreibt er diesem Volk zu, was in seinen eigenen Ohren einen guten Klang gehabt hätte. Eines behauptet er dabei nie: Dass die Germanen seit Menschengedenken in Germania ansässig gewesen wären (Tacitus, Germania, 2f).
Ihm zur Folge seien sie mit Schiffen über das Meer gekommen. Auch wussten sie seinerzeit noch Geschichten über berühmte Männer der späten Bronzezeit zu erzählen: Herkules ebenso wie Ulixes (Odysseus) sei "bei ihnen" (apud eos) gewesen und letzterer als Stadtgründer und Namensgeber von Asciburgium am Rheinufer in Erinnerung geblieben.
Es steht geschrieben, dass die Irrfahrt eines Zeitgenossen des Odysseus im heutigen Italien endete, wo dieser Flüchtling aus Troja Städte gründete. Sein Name war Aeneas. Er wird seit der Antike als Urahn für zentrale Figuren der Weltgeschichte in Anspruch genommen.
Im Gegensatz zu Odysseus gehörte er nicht zu den Angreifern, sondern zu den Verteidigern seiner Heimatstadt. Auch wenn ihm in bestimmten Quellen Komplizenschaft mit dem Feind unterstellt worden ist, zählt Aeneas nichtsdestoweniger unter diejenigen Geflüchteten, die ihre Heimatstadt durch den Krieg verloren hatten.
Die berühmtesten drei Nachfahren dieses trojanischen Fürsten sind Romulus, Remus und Caius Iulius. Über die beiden Brüder ist Aeneas Ahnherr der 'Ewigen Stadt'. Über Caius Iulius ist er Urvater Caesars, nach dem sich römische Potentaten sowie deutsche Monarchen seit Karl dem Großen 'Kaiser' genannt haben.
Franken als geflüchtetes Volk
Dieser letztgenannte Kaiser Karl war zugleich König der Franken. Nach diesem berühmten Volk ist nicht nur eine deutsche Region, sondern auch das ganze Frankreich benannt. Die Geschichtswissenschaft kennt sie als kriegstüchtige Sippschaft mit umstrittener Vergangenheit.
Ein als 'Fredegar' bekannter Chronist seines Volkes lebte lange vor dem Kaiser und Frankenkönig Karl. Er ist der erste uns bekannte Autor, der den Franken trojanische Herkunft zugeschrieben hat. Seine Chronik gibt in zweifacher Form wieder, wie die Franken aus dem Mittelmeerraum fliehen und sich schließlich am Rhein niederlassen.
Die ältere Version dieser 'Migrationsgeschichte' behauptet: Der Fall Trojas bedeutet zugleich den Anfang der Franken und der Römer. Wie Aeneas der Stammvater der Römer sei, so stammen die Franken von seinem Bruder Friga, dem Nachfolger des trojanischen Königs Priamus, ab.
Obendrein betont der Chronist, dass es eine Zweispaltung im Volk gegeben habe. Der fränkische Teil sei nämlich phrygischer, während der andere Teil makedonischer Herkunft sei. Nach einer Teilung wandert der makedonische Teil in sein Stammland und baut sein Volk zu einer gewaltigen Kriegsmacht aus.
Der fränkische Teil irrt - durch Odysseus getäuscht - mit Frauen und Kindern durch fremde Gegenden und wählt schon auf der Wanderung den kampferprobten Francio zu ihrem Anführer. Von seinem Namen leiten sich die Franken ab.
Schlussendlich gelangt der Tross an den Rhein, wo sich die Franken niederlassen und, da sie auf der Wanderung herbe Verluste verbüßt haben, nur noch Herzöge zu ihren Herrschern wählen – in der anderen Version versucht der Chronist diese Siedlung am Rhein zu lokalisieren. Er spricht von einem zweiten Troja am Rhein.
Fazit
Laut antiken und mittelalterlichen Quellen ist 'deutsches' Land als 'Einwanderungsland' zu klassifizieren. Nicht nur Germanen, sondern auch Franken beriefen sich auf eine eigene Migrationsgeschichte.
Wesentlicher Bestandteil ihrer Geschichten waren Ereignisse rund um den Trojanischen Krieg. Hierunter zählen nicht nur die Taten des berühmten Aeneas, sondern auch die Erlebnisse des gerissenen Odysseus, der laut 'Fredegar' böswillig Einfluss auf die fränkische 'Fluchtroute' genommen hatte und laut Tacitus als Stadtgründer im Rheinland tätig war.
Aus dieser Perspektive betrachtet wäre es verwunderlich, falls an einem so zentralen Ort des Frühmittelalters wie Corvey nie eine Abbildung seiner Person gefunden worden wäre. Auch ein Exkurs in die Weiten der Theologie ist dann nicht mehr zwingend notwendig, um die 'rätselhafte' Wandmalerei von Corvey verständlich zu machen.
Welche Implikationen haben solche alten Geschichten für unsere Zukunft?
Unter Berücksichtigung tagesaktueller Ereignisse können alte Migrationsgeschichten europäischer Familien und Völker von Neuem ausgewertet werden. Die antiken 'Migrationsrouten' eines Aeneas, eines Odysseus oder des Volkes der Franken ähneln den Wegen zeitgenössischer Migranten nicht nur augenscheinlich. Auch die Härten und Schwierigkeiten, die sie auf ihrem Weg in eine bessere Zukunft durchstehen mussten, finden Entsprechungen in unserer Zeit.
Wenn auf Gefahren hingewiesen wird, die sich aus der Migration aus anderen Kulturkreisen ergeben können, dann können die Erzählungen aus der Vergangenheit belegen, wie unsere eigene Kultur aus Migration ganzer Völkerscharen erwachsen ist. Das meinten zumindest 'die Alten'.
Europäer können in ihrer eigenen Migrationsgeschichte einen wesentlichen Bestandteil des historischen Bewusstseins wiederentdecken und sich auf diese Weise einfacher mit Geflüchteten unserer Tage identifizieren lernen.
Von Philipp Kutsch und Clemens Zentek
In einem Monat, vom 10. bis zum 16. Juni 2018 wird in Chatêau d’Orion erstmals eine eigenständige Denkwoche zur Geschichte stattfinden. Zimmer sind noch frei und wir freuen uns auf Ihre Anmeldung!In der Auseinandersetzung mit dem Referenten Friedemann Scriba von der HU Berlin werden wir uns an zwei Leitfragen orientieren: Was macht Geschichte mit uns? Und was machen wir mit ihr?