Zum Verhältnis von Moral und dem gelungenen Leben

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Moralisch Heilige – Langweilig oder inspirierend?

Lea Ransbach war im Sommer/Herbst 2018 Praktikantin in Château d'Orion. Sie hat an der Justus-Liebig-Universität Gießen Französisch und Philosophie studiert und bereitet derzeit ihre Promotion vor. Für ihre PhiLea-Kolumne auf unserem Blog setzt sie sich regelmäßig mit bedeutenden philosophischen Fragestellungen, Perspektiven und Persönlichkeiten auseinander. In dem folgenden Beitrag untersucht Lea Ransbach die Beziehung von Moral und gutem Leben - hinführend zur anstehenden Denkwoche vom 28. April bis zum 4. Mai 2019. Inspiriert und geleitet von Dr. Ina Schmidt werden wir uns der Frage "Das gute Leben - Was unser Leben gelingen lässt." in geselliger Runde widmen. Gerne können Sie sich für die verbleibenden Plätze zum gemeinsamen Nachsinnen und Diskutieren im Château d'Orion anmelden.

Die Frage nach dem gelungenen oder guten Leben und die Frage nach richtigem oder falschem Handeln beschäftigen die Philosophie seit der Antike. Während Aristoteles noch einen engen Zusammenhang zwischen dem guten Leben und richtigen Handeln sah, derjenige führte nämlich ein gutes Leben, der tugendhaft und damit auf eine spezifische Weise „richtig“ handelte, klammerten Kant und Mill, zwei weitere große Vertreter der bekannten Paradigmen der Ethik, die Frage nach dem gelungenen Leben weitgehend aus und widmeten sich fast ausschließlich – so scheint es – dem richtigen Handeln und damit der Frage nach Moral. Heute scheint die Frage nach dem gelungenen Leben wieder die Oberhand gewonnen zu haben. Die Fragen, die uns oft am dringlichsten beschäftigen, sind die nach individuellem Glück, Selbstverwirklichung, Familie, Freunde, materieller Besitz…Wir legen To-Do-Listen an, auf denen wir Reisen, wichtige Schritte in unserem Leben, Errungenschaften wie ein Diplom oder ein erstes Gehalt, etc. abhaken. Auch wenn wir uns mit Freunden auf einen Kaffee treffen, ist das erste, was wir tun, eine Art Bestandsaufnahme dieser Liste. Und wie weit bist du gekommen? Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, habe ich das und das gemacht.Es gibt sicherlich einiges an dieser Art und Weise, das Leben Stück für Stück abzuhaken, was sich kritisieren ließe. Eine wichtige Frage scheint mir jedoch vor allem zu sein, ob wir heute, wenn wir über das gute Leben nachdenken, nicht viel zu sehr auf uns selbst beschränkt sind. Das heißt, haben wir – anders als Kant und Mill – die Frage nach Moral verdrängt und die nach dem gelungenen Leben zu hoch angesetzt? Oder aber – angenommen Moral habe nach wie vor einen Stellenwert in unserer Gesellschaft – sind Moral und das gelungene Leben einfach zwei verschiedene Paar Schuhe? Dieser Frage möchte ich anhand eines Textes von Susan Wolf über moralische Heiligkeit nachgehen und dafür argumentieren, dass beide Fragen im gleichen Maße ihre Berechtigung haben und mehr noch, untrennbar miteinander verbunden sind.Wie stellen wir uns einen moralischen Heiligen vor? Ein Mensch, der immer das richtige tut, d.h. jemand, der sich vermutlich stets an einem bestimmten Wertekodex und damit einhergehende Regeln hält. Und nicht nur das: er würde Handeln aus moralischen Gründen  jeder Zeit über Handeln aus nicht-moralischen, z.B. Klugheitsgründen, egoistischen Gründen, etc., stellen. Wenn wir an einen moralischen Heiligen denken, dann denken wir z.B. an Mutter Theresa, jemand, der jederzeit bereit ist, sein eigenes Glück oder gar sein eigenes Leben dafür zu opfern, um Anderen Gutes zu tun. Nun scheint die Sache mit moralisch Heiligen eine zwiespältige Angelegenheit zu sein. Einerseits gelten solche Menschen als Vorbilder, ihr Verhalten gilt als lobenswert und wird dem Verhalten eines Schurken gegenübergesetzt. Und in der Kindererziehung sind wir vermutlich eher darauf bedacht, unseren Nachkommen das Bild einer Mutter Theresa vorzuführen als das eines Schurken. Andererseits, so die These Susan Wolfs, möchte eigentlich niemand wirklich mit einer Mutter Theresa befreundet sein – vielleicht würden wir sogar den Schurken vorziehen – und das vor allem aus einem Grund: moralisch Heilige wirken seltsam charakterlos. Das einzige, was diese Person wirklich auszuzeichnen scheint ist, dass sie sehr sehr nett ist. In manchen Situationen ist diese Eigenschaft sicherlich ein Vorzug, wir selbst könnten von dieser Nettigkeit hin und wieder profitieren, aber selbst in diesen Situationen ist da schon eine Sache, die uns stört: wir möchten, dass derjenige unserer selbst wegen nett ist. Wir möchten, dass er nett ist, weil er uns aufrichtig mag und nicht, weil es in moralischer Hinsicht seine Pflicht ist. Wenn uns dieser Freund am Krankenbett besuchen kommt, dann doch bitte nur, weil er ein ehrliches Interesse an uns hat.Aber mehr noch: abgesehen von dieser Nettigkeit gibt es für uns nicht wirklich einen guten Grund, uns tatsächlich mit dieser Person abzugeben. Sie hat bis auf ihre Nettigkeit keine herausragenden Eigenschaften, die wir sonst an Menschen, die uns umgeben, so schätzen. Sie hat keine eigenen Interessen, die Freunde verbinden. Wir müssen stets fürchten, dass diese Person unsere Verabredung zum Kino absagt, weil sie Wichtigeres zu tun hat: die Welt retten. Und auch wenn dieser Anspruch lobenswert ist, möchten wir doch manchmal trotzdem einfach nur einen Film sehen. Vielleicht sogar einen Film mit unmöglichem Humor. Und wenn gar ein Kinobesucher im Dunkeln auf der Suche nach seinem Platz stolpert und dabei das ganze Popcorn im Kinosaal verteilt, dann möchten wir mit unserem Freund darüber lachen können anstatt unmittelbar mit ernster Miene aufzuspringen und demjenigen zu helfen. Ein moralisch Heiliger brennt, abgesehen von seiner moralischen Mission, für nichts und es ist ganz sicher keine Person, mit der wir Pferde stehlen können.Freundschaft, so Susan Wolf, zeichnet sich gerade durch Parteilichkeit aus. Wir erwarten von Freunden, dass sie uns und unsere Interesse schätzen und im besten Fall einige davon teilen. Wir erwarten, dass sie bereit sind uns über andere, fremde Menschen zu stellen. Wir erwarten auch, dass sie, wenn wir etwas moralisch nicht ganz Korrektes getan haben – z.B. eine Lüge, ein Ehebruch, ein egoistischen Verhalten – dennoch zu uns stehen und wir uns ihnen in Bezug auf diese Sache anvertrauen können, denn dafür scheinen Freunde doch unter anderem da zu sein. Müssen wir also angesichts dieser Kritik, die vermutlich viele teilen würden, Moral aufgeben? Ist es vor diesem Hintergrund also gerechtfertigt, dass wir uns eher anderen Werten wie Freundschaft, Liebe und Selbstverwirklichung zuwenden? Susan Wolf spricht von einer Pathologie der Moral, wenn Moral tatsächlich dazu führen sollte, dass andere Werte wie Freundschaft, Liebe und Selbstverwirklichung immer unten anstehen würden. Ihr Lösungsvorschlag besteht jedoch nicht darin, dass wir Moral in Zukunft ausklammern sollten, sondern darin, dass wir Moral zu einem gewissermaßen gleichberechtigten Wert unter anderen Werten machen. Sie plädiert also für einen ethischen Pluralismus.Diesem ethischen Pluralismus zufolge kann es neben moralischen Gründen also auch andere Gründe für Handlungen geben. Bernard Williams, der sich ebenfalls dem Spannungsverhältnis von Moral und gelungenem Leben widmet stellt sich beispielsweise folgendes Szenario vor: Ein Künstler verlässt seine Frau und seine Kinder, um sich an einen abgeschiedenen Ort zu begeben, denn nur dort kann er seine verlorene Inspiration wiederfinden. Für Williams und für Wolf könnte diese Überlegung tatsächlich gerechtfertigt sein, denn im Grunde stehen sich hier ganz einfach zwei verschiedene Arten von Gründen gegenüber: ein moralischer Grund, nämlich dass er als Vater bestimmte Pflichten zu erfüllen hat und die Selbstverwirklichung bzw. Ästhetik, die für ihn einen gleichermaßen hohen Wert darstellen. Nun mag es die einen geben, die ihn als maßlos egoistisch verurteilen und andere, die vielleicht ähnlich empfinden, haben Verständnis. Die Schwierigkeit dieses ethischen Pluralismus besteht darin, dass es nun eigentlich keinen Anhaltspunkt mehr dafür gibt, wie hoch Moral neben anderen Werten anzusetzen ist. Jeder muss für sich ganz allein entscheiden, aus welchen Gründen er handelt und mit den Konsequenzen leben.So attraktiv das Konzept eines ethischen Pluralismus auch klingen mag – denn auch ich möchte nicht zu einer moralisch Heiligen werden, sondern andere, manchmal auch nicht-moralische Interessen verfolgen können – lässt es uns vielleicht doch auch etwas zu viel Freiraum und befürwortet unsere aktuelle Tendenz, uns maßgeblich uns selbst zu widmen. Auch wenn Freunde und Familie bereits eine Erweiterung unserer eigenen Sphäre darstellen, reicht es möglicherweise nicht aus, dass unser Interesse oft nur auf einige wenige Menschen beschränkt ist. Was Susan Wolf nicht bedacht hat ist, dass weder Kant noch Mill von uns fordern, zu moralisch Heiligen zu werden. Nicht umsonst gibt es Handlungen, die wir in der Philosophie als „supererogatorisch“ bezeichnen, Handlungen also die über alle Maße als moralisch wertvoll gelten, aber nicht zwangsläufig von einer Person verlangt werden können. Dazu gehört beispielsweise die Opferung des eigenen Lebens. Dennoch ist es vielleicht nicht verkehrt, das Idealbild eines moralisch Heiligen vor Augen zu haben, denn es gibt uns Orientierung in Zeiten, in denen Werte zunehmend vielfältig werden und man sich nach Lust und Laune einfach etwas aussuchen kann. Das bedeutet nicht, dass Moral über allen anderen Werten steht und wir auf andere, individuelle Interessen und die Verfolgung eines eigenen, persönlichen guten Lebens verzichten müssen. Es bedeutet nur, dass wir bei der Auswahl verschiedener Gründe auch stets die moralischen Gründe im Hinterkopf behalten sollten. Schließlich ist Moral nicht einfach nur ein strenges Regelkorsett, sondern dient in erster Linie einem guten Zusammenleben mit anderen. Und das wiederum scheint mir eine der wichtigsten Grundlagen für das gute Leben zu sein. Vielleicht hat also Aristoteles damals am besten den Nagel auf den Kopf getroffen, als er sagte, Moral und gutes Leben stehen sich nicht gegenüber, sondern sind wechselseitig miteinander verbunden. Wir führen unter anderem ein gutes, vielleicht sogar glückliches Leben, wenn wir gut mit anderen Menschen zusammenleben – auch wenn das bedeutet, dass wir manchmal auf egoistische Interessen verzichten müssen.