Was braucht der Mensch?
Was braucht der Mensch?
Der Zettel des Brauchens
Viele kenne ich, die laufen herum mit einem Zettel
Auf dem steht, was sie brauchen.
Der den Zettel zu sehen bekommt, sagt: das ist viel.
Aber der ihn geschrieben hat, sagt: das ist das wenigste.
Mancher aber zeigt stolz seinen Zettel
Auf dem steht wenig.
Berthold Brecht
Im Oktober 2015 widmeten wir uns dieser wichtigen Frage. Es war Herbst in Orion und ich erinnere mich an kühle Tage unter der bunten Platane und gemütliche Abende am runden Tisch des Speisesaales neben dem Kaminfeuer. Elisabeth von Thadden begleitete uns für eine Woche. Am ersten Tag fragte sie uns, was wir im Leben brauchen. Was sollten wir da schon antworten? Wir hatten doch alles. Zumindest in dieser Woche. Mit Wolldecken eingehüllt saßen wir um den großen Holztisch mit Blick auf die Pyrenäen, aus dem Staunen noch nicht wieder rausgekommen, als unsere Referentin Zeitungsausschnitte vor uns ausbreitete. Es waren kleine Erzählungen von Flüchtlingen, die kurz zuvor erschienen waren. Auch diese Menschen hatten auf die Frage geantwortet, was sie im Leben brauchten. Und auf einmal wirkten unsere kläglichen Versuche, einen Zettel des Brauchens zu verfassen, unwichtig. An eine Erzählung erinnere ich mich im Besonderen. Ein Jugendlicher nannte sein Handy. Ein Handy? Wieso brauchte ein Geflüchteter am dringendsten ein Handy, wo er doch in erster Linie einen Schlafplatz und etwas zu Essen benötigte. Ganz einfach: Weil sein Handy der einzige Kontakt zu seiner Familie, seinen Leuten und seinem Land war.
Natürlich, so sagten wir uns immer wieder, sind auch unsere Bedürfnisse, Bedürfnisse also von Menschen, die sich nicht in einer Extremsituation befinden, von Bedeutung. Die Erzählungen von Flüchtlingen führten uns aber vor Augen, wie grundlegend manche Dinge sind, die uns überhaupt nicht eingefallen wären. Während wir bei der Frage, was der Mensch braucht, an ein gutes Leben dachten, dachten die Menschen dieser Erzählungen daran, was sie zum Überleben brauchten. Das waren in der Tat zwei verschiedene Interpretationen der Frage. Während wir es uns also leisten konnten, auf unseren Zettel des Brauchens auch so etwas wie Entspannung, erfüllende Tätigkeiten oder gar in manchen Augen luxuriöse materielle Güter zu setzen, waren für diese Flüchtlinge in erster Linie ein Handy, Schlaf und Frieden von Bedeutung. Wir waren uns alle einig, dass auf unseren Zettel sowohl materielle als auch immaterielle Güter gehörten. Zu den immateriellen Gütern sollten auf jeden Fall auch Würde, das Recht auf Selbstbestimmung, oder auch Liebe zählen. Wir sprachen auch über ein weiteres Gut, das schließlich Ausgangspunkt für eine weitere Denkwoche wurde: Berührung.
Wir alle, unabhängig von unseren Lebensumständen, brauchen Berührung. Wir brauchen sie für ein gutes Leben, vielleicht aber auch zum Überleben. Berührung bedeutet manchmal körperliche Berührung, Zärtlichkeit oder auch nur die Gewissheit, da ist ein anderer Mensch in meiner Nähe. Berührung kann manchmal auch nur ein Blick sein, der uns streift. Vielleicht sogar ein Lächeln. Berührung kann auch durch Musik, ein Gemälde oder eine Geschichte entstehen. Allen gemeinsam ist, dass sie uns spüren lassen, dass wir existieren. Sei es, dass wir von Anderen wahrgenommen, anerkannt werden, sei es, dass sich in uns etwas bewegt oder etwas zum Leben erweckt wird. Allen gemeinsam ist auch, dass sie Nähe entstehen lassen. Nähe zu anderen Menschen, zu Themen, die sonst weit weg sind, oder auch zu uns selbst.
Berührung habe ich in meiner Zeit in Orion viel erlebt. In erster Linie durch die Kontakte und Begegnungen mit den Menschen vor Ort: durch die Bewohner des Hauses, die Gäste, Freunde und Bekannten, die regelmäßig vorbeikommen, aber auch durch Menschen aus der Umgebung. Berührung schafft auch die Natur in Orion: der leuchtende Sternenhimmel, den ich nirgends sonst so strahlend gesehen habe, die Weite und die Berge, die Ruhe und der Atlantik mit all seinen Wellenreitern.
Am meisten berührt hat mich in Orion immer die Gastfreundschaft und das Gefühl, dort jederzeit willkommen zu sein. Das scheint mir ein Gefühl zu sein, dass wir alle, manche noch mehr als andere, öfter gebrauchen könnten. Sie ist eigentlich einfach und so hat Brecht möglicherweise recht, wenn er sagt, wir brauchen wenig. Ich wünsche den Teilnehmer*innen der kommenden Denkwoche also, dass sie sich berühren lassen und dass sie uns im Anschluss vielleicht helfen können noch besser zu verstehen, was Berührung so besonders macht und warum wir sie alle brauchen.
Lea Ransbach