„Komm, erzähl mir Deine Geschichte!“ – Teil III Für eine Ethik der Narrativität mit Hannah Arendt

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In einem dreiteiligen Beitrag möchte ich für eine Ethik der Narrativität, eine Ethik des Geschichtenerzählens, plädieren. Das Geschichtenerzählen hat viele Funktionen. Im ersten Teil habe ich die Bedeutung des Geschichtenerzählens für unsere Identität beschrieben. Im zweiten Teil bin ich verstärkt darauf eingegangen, dass das Geschichtenerzählen auch genuin ethische Funktionen hat. Ich habe davon gesprochen, dass es sich in manchen Fällen um eine ethische Pflicht handelt, wenn es um das Erzählen von Geschichten über Menschen geht. Ein wichtiges Beispiel sind die damaligen Opfer des Holocaust. Ziel des Holocaust, der häufig auch als „Ereignis ohne Zeugen“ bezeichnet wird, war das systematische Auslöschen von Individualität und Individuen. Insbesondere vor dem Hintergrund des zunehmenden Aussterbens von Zeitzeugen stellt sich somit die Frage, wie wir diesen Menschen erstens ihre Würde und Individualität zurückgeben können und wie wir zweitens ihre Lebensgeschichten in Erinnerung halten können. Gleiches gilt für weitere Gruppen von Menschen, die ihrer Individualität beraubt wurden bzw. werden und sozusagen „unsichtbar“ wurden bzw. werden. Dazu gehören auch aktuell flüchtende Menschen, die häufig als „der Flüchtling“ abgestempelt werden und deren ganz persönliche Geschichten häufig in den Hintergrund oder gar Untergrund geraten. 

Aktuell lassen sich einige Vergleiche zwischen Flüchtlingen zur Zeit des Nationalsozialismus und aktuell flüchtenden Menschen finden. Um einen Begriff von Hannah Arendt zu wählen: die damaligen Flüchtlinge (und noch viele vor ihnen) waren nur „die Avantgarde“ all jener, die noch folgten und immer noch folgen. Umso erstaunlicher ist es, dass die Philosophie, die doch sonst zu allem etwas zu sagen hat, kaum Ideen, Theorien, Konzepte und Methoden kennt, um das Phänomen und Problem der Flucht besser zu verstehen, zu fassen und Lösungswege zu erarbeiten, um mit den aktuellen Schwierigkeiten umgehen zu können. 

In meinem dritten und letzten Schritt möchte ich also noch einmal für eine Ethik der Narrativität plädieren. Die ethische Pflicht des Geschichtenerzählens hat nicht nur etwas mit der Konstitution von individueller oder kollektiver Identität oder dem Wiederherstellen von Würde zu tun. Das Geschichtenerzählen, das auch für das Tradieren und Verstehen von großer Bedeutung ist, ermöglicht es uns um besten Fall, aus der Vergangenheit zu lernen und damit schreckliche Dinge nicht zu wiederholen. Auch hierbei handelt es sich um eine ethische Pflicht, letztendlich aber auch um eine politische Forderung. 

Im Rahmen einer Ethik der Narrativität möchte ich also auch dafür plädieren, dass das Geschichtenerzählen als eine weitere Methode der Politischen Philosophie integriert wird. Ich hatte bereits angedeutet, dass die Philosophie maßgeblich an abstrakten Theorien und logisch schlüssigen Argumenten orientiert ist. Häufig geht dabei leider etwas verloren und ohne jetzt schon genau sagen zu können, was es ist, würde ich behaupten, dass Geschichten genau das leisten könnten. 

„Das Jahr ist 2015.“, sagt Ahmed Yusuf, Flüchtling aus Syrien. „Das Jahr ist 1938.“, sagt Daniel Levy, Flüchtling aus Deutschland, im Poetry Slam „Hinter uns mein Land“. Sie erzählen von Heimat, Flucht und Exil. Der Bolzplatz, das Lächeln der ersten Liebe, der Apfelbaum. Heißer Tee, Geschichtenerzähler, Quatsch machen auf dem Rückweg von der Schule. Aber dann: der Krieg. „Der nächste Schritt in meiner Stadt, war der letzte Schritt in meinem Land und der schlimmste Schritt dann auf dieses rostige Boot (…).“ Schließlich die Ankunft im neuen Land. „Manchmal spürt man die Liebe, manchmal spürt man den Hass. (…) Und bleiben wir hier, werden wir wie der Strand, nicht ganz Meer und nicht ganz Land.“ Die Erfahrungen der beiden Flüchtlinge ähneln sich und sind doch ganz persönlich. Manche können wir nachempfinden, wie das Gefühl von Heimat. Andere wiederrum sind uns vielleicht ganz fremd, wie das Gefühl von Vertreibung, das Gefühl des Nicht-richtig-ankommen-Könnens, der Hass, das Heimweh, der Verlust. 

Wie sollten wir auch derartige existentielle Grenzsituationen nachempfinden können, wenn wir sie selbst nie erlebt haben? Obwohl das Problem der Flucht, der Migration und des Exils nun wirklich kein Neues ist, haben wir bis heute keinen geeigneten Umgang mit diesen Phänomenen gefunden. In der Tat, Flüchtlinge sind auch heute noch, vielleicht stärker denn je, wie der Strand. Sie sind gefangen zwischen dem Hier und Dort und das mag mitunter daran liegen, dass sie nicht als diejenigen willkommen geheißen werden, die sie tatsächlich sind. Sie sind dann willkommen, wenn sie sich gut integrieren und sich anständig, heute den westlichen Werten konform, verhalten. Und natürlich ist an dieser Forderung etwas dran. Ein Gast muss sich in gewisser Weise anpassen. Aber warum fällt es uns so schwer, sie als das zu sehen, was sie tatsächlich sind, nämlich Menschen mit eigenen Werten, die viel, wenn nicht alles, mit ihrer persönlichen wie auch kollektiven Geschichte ihres Landes zu tun haben? Anstatt diese Menschen also nur an unseren Werten zu messen, sollten wir vielleicht anfangen, ihnen erst einmal zuzuhören, um besser zu verstehen, warum sie sind, wer sie sind. Was uns häufig fehlt, ist ein echtes Interesse und auch eine Neugierde bezüglich des Fremden, das doch eigentlich so exotisch und interessant daherkommt und so unglaublich viel Potential für Diskussionen birgt. Vielleicht ist es nach wie vor die bekannte Angst vor dem Fremden, die beide Seiten, die Gastgeber und Gäste, beherrscht. Die aber weicht erst, wenn wir mehr und mehr Geschichten voneinander hören und mit jeder weiteren Geschichte wird hoffentlich ein kleines bisschen mehr Neugierde geweckt.

Und die Philosophie? Auch die Philosophie sollte diese Neugierde haben, den Drang, tiefer zu bohren und zu verstehen. Das ist es doch, was sie ausmacht. Die Vernunft allein reicht als Werkzeug hier aber nicht aus. Es geht um Erfahrungen. Erfahrungen aber sind bekanntlich etwas, das die Philosophie nur mit spitzen Fingern anpackt. Und überhaupt, was heißt eigentlich Erfahrung? Statt aber nur zu überlegen, wie sich Erfahrung begrifflich oder phänomenologisch fassen lässt, Konzepte von Flucht und Exil zu entwickeln oder an logisch schlüssigen Argumenten für einen geeigneten Umgang mit Migranten zu basteln, müsste sie erst einmal anfangen, sich ganz konkreten Erfahrungen von Menschen zuzuwenden. Erst dann können Theorien gefüttert und Argumente gestützt werden. 

Es wäre wünschenswert und wichtig, dass sich die Philosophie diesen Phänomenen zuwendet, denn es handelt sich um Phänomene mit genuin ethischen, aber nicht zu Letzt auch politischen Dimensionen. Geschichten enthalten Erfahrungen, transportieren diese, machen sie greifbar, verändern sie aber möglicherweise auch. In jedem Fall aber, haben Geschichten ein ganz besonderes Potential, was deutlich wird, wenn wir uns die Geschichten von Ahmed Yusuf und Daniel Levy anhören: sie berühren uns auf eine Weise, wie es abstrakte Theorien und bloße Argumente niemals tun könnten. Und diese Berührung und persönliche Betroffenheit brauchen wir, um aktiv zu werden. So sagt zum Beispiel Hannah Arendt, dass sie erst dann ein politischer Mensch wurde, als Juden einen Stern als Kennzeichen tragen mussten. Es war ihr damals, als sei sie endlich auf den Kopf gefallen. Uns alle wünsche ich, dass wir auf den Kopf fallen und aufwachen. Geschichten, die Allgemeingültigkeit besitzen und zugleich persönlich sind, haben möglicherweise das Potential, uns diesen Stoß zu versetzen. Geschichten laden zu Identifikation ein und wir stellen uns unmittelbar die Frage, wie wäre es, wenn all das mirpassiert wäre?

Und so möchte ich mit einem Zitat von Hannah Arendt enden, euch einladen, den Geschichten von Ahmed Yusuf und Daniel Levy, und vielen anderen, zuzuhören und euch davon berühren zu lassen, um euch gleichfalls auf die Denkwoche zu „Was berührt uns?“ unter der Leitung von Elisabeth von Thadden einzustimmen.

„My justification for telling you about it is that I have always believed that, no matter how abstract our theories may sound or how consistent our arguments may appear, there are incidents and stories behind them which, at least for ourselves, contain as in  a nutshell the full meaning of what ever we have to say. (Arendt 1960, in: Action and „the pursuit of happiness“)

PhiLea by Lea Ransbach

Tobias PremauerComment