Das Ändern leben
Vier Monate als Praktikantin im Château d’Orion verändern. Nun, einen Tag vor Abreise, ein Rückblick auf eine Anreise per Fahrrad, die herausfordernd und wunderschön war. Das Fahrrad ist jetzt wieder bepackt, das Herz voll von Momenten des Kuhbeobachtens, Krötenlauschens, Blumenpflückens und des Kennenlernens einer Gastlichkeit wie ich sie nie zuvor erlebt habe. Ich danke Tobi und Elke von ganzem Herzen für diese einzigartige und wundervolle Erfahrung!
Und dann ist die Kette gerissen. Welch ein Anfang einer Reise! Gegenwind wirft mich stetig zurück, der Regen wandelt Wege in Flüsse und mittendrin wandle ich – ehemals auf dem Rad, nun doch wieder daneben, es schiebend, anstatt wie einst angedacht, von ihm getragen zu werden. Fast ist es erleichternd, dem Westwind meinen Rücken zuzukehren und schleppenden Schrittes die wenigen Kilometer gen Mons anzutreten. Hinter mir schleift die kaputte Kette durch die Pfützen, bei jedem Schritt quietschen und schmatzen die triefenden Stiefel. Motorengeräusche veranlassen mich zum Halten – und siehe da: Das Auto auch. Der wackere Fahrer wagt sich ins Unwetter hinaus und verlädt mich samt Fahrrad. Immerhin: Zurück in Mons, wo ich vor einigen Stunden erst losfuhr. Ich erspare den Lesenden weitere Etappen des Weges, der mich von Straßen wie Flüssen, einer trockenen Garage zur provisorischen Reparatur meines Gefährt(en)s über nicht enden wollende Alleen, geschlossene Fahrradläden hin zu einem Kamin und einem schweren warmen Hundekopf auf meinen wackligen Beinen führte.
Tags darauf trotzen mein repariertes Rad und ich Wind und Wetter wieder, diesmal ausgeschlafen und gestärkt dank nun nicht mehr fremden Gastgebern der Nacht zuvor. Der Weg verläuft laut Telefon abseits der Straße über Feldwege. Deren knietiefer Schlamm lässt mich steckenbleiben, stürzen und schließlich halb versunken das Fahrrad schultern und schimpfend voranstapfen. Eine Tortour – mein Weg nach Orion.
Ich spule zwei Tage vor, überspringe Schilderungen von Gegenwind und Bombenwarnung auf einer Zugstrecke nebenan, komme in Paris an und sehe eine nicht unbeträchtliche Menge an Maschinengewehren vor mir, mit denen mich die französische Hauptstadt überraschend unromantisch in Empfang nimmt. Hinzu kommen Sirenen, gelb bewestete Massen, verirrte Passanten und Glasscherben, wohin das Auge blicket. Und während die Gelbwesten die Champs Elysees auseinandernehmen, fahre ich über Umwege und Nebenstraßen an diesen wilden Großstadtszenarien vorbei hin zum Apartment eines Freundes, abseits von Waffen und Wut.
Zwei Tage später, erneuter Szenenwechsel: Es ist schier unglaublich - Apfelbäume blühen, die Sonne scheint, kein Wind weht. Das Wetter lädt zum Verweilen ein und zeitgleich lockt die Ferne. Wir, mein Fahrrad und ich, fahren fröhlich an die und an der Loire. Mal ein Kaffee hier, mal ein Croissant dort, mal ein Innehalten bei Vogelsang. Die noch winterkarge Landschaft wirft sich in ihr weiß-grün-gelbes Frühlingskleid.
Ich liebe sie, die Nächte im Zelt unter klarem Sternenhimmel mit dieser klaren Luft, zum Schneiden kalt. Morgens bringt der Raureif die ersten Eindrücke des Tages zum Glitzern und Funkeln.
Schlösser an der Loire, kleine und große, protzige und charmante. Felder, Wälder und das sich schlängelnde blaue Band des Flusses, mein roter Faden.
Nach der Loire die Jakobsmuschel: Ich folge alten Pilgerpfaden – Wege der Gast- und Fremdenfreunde. So manche werden mich einladen, bei ihnen zu schlafen und zu essen und zu duschen. Eines Morgens als mein ohnehin schon defizitärer Gaskocher den Geist aufgibt, traue ich Augen und Ohren kaum, als mir der ersehnte Kaffee von den Händen eines kleinen Jungen entgegengereicht wird, dessen Mutter meine morgendlichen Mühen beobachtet hat. Wie erkläre ich solche und ähnliche Zufälle schicksalhaften Beigeschmacks, die meinen Weg säumen? Wie kommt es, dass sich Wünsche mit etwas Geduld, Bescheidenheit und Konstanz oft ohne großes Zutun erfüllen? Wieso bekomme ich plötzlich vier Hühnereier geschenkt, welche ich mir doch tags zuvor so sehr wünschte?
Das Herz fühlt verstehend, was der Verstand zu greifen sucht – es zu formulieren, ist mir nicht möglich und dennoch scheinen diese Koinzidenzen meinem reisenden Geist eine dem Leben tief innewohnende Regel zu offenbaren.
Es rührt mich, rückblickend an all die Menschen zu denken, die diese Reise begleitet haben. Und sei es auch nur mit einem kleinen Lächeln am Wegesrand. Vom Auf- und Umbau des Rads bis zum letzten Tritt in die Pedale begegneten mir ermutigende Taten, Gesichter und Worte. Viele öffneten mir die Türen ihrer Häuser und teilten ihre Geschichten mit mir. Ein fremdenfeindliches Europa habe ich in der europäischen Fremde nicht erleben müssen. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit und frohem Mut, solch offenen Menschen begegnet zu sein, die für eine gastfreundliche und vorurteilsfreie Kultur stehen und leben. Jede und jeder Einzelne von ihnen sind mir als Inspiration und Vorbild geblieben!
Von solch einer unerwarteten Gastkultur beseelt trat ich auch die letzte Etappe von Orthez nach Orion an. Eine kurze, doch bergige Fahrt stand an; das obligatorische Pain au chocolat fungierte als Antrieb. Sonnenschein, grüne Hügel soweit das Auge blicket. Ein paar Kühe begutachten kritisch meine Mühen, der Herdenrest befindet das Grasen für interessanter. Ein paar Tritte in die Pedale, bergauf, bergab. Das Ziel rückt näher. Man kann das Schloss schon riechen, denke ich.
Es förmlich schon riechen zu können, kam einem Höhenflug gleich – da knirschte es kurz, aber einprägsam – die Füße segelten halt- und ziellos ins Leere – wie hätte die Reise auch anders enden sollen als sie anfing?
Denn dann ist die Kette gerissen.