Philosophischer Nachtrag zur Denkwoche Geschichte 2018

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Was macht Geschichte mit uns? – oder: Was machen wir mit Geschichte?

Dieser Titel der Denkwoche im Juni 2018 suggeriert, dass es um Geschichte gehe. 

Doch recht eigentlich geht es um Philosophie – im Kant’schen Sinne: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?

Wissen kann ich über die Vergangenheit einiges – exakt das, was mir in meiner Subjektivität zugänglich ist oder sich durch Begegnung und Auseinandersetzung als zugänglich erweist. Ich wähle aus, was mich bestätigt oder weiterbringt – letzteres im Sinne meiner Forderungen an mich als ein Individuum, das mit sich übereinstimmen will, und als Mitglied von Gruppen, denen ich mich zugehörig fühle. So findet z.B. im Erzählen und Beschweigen von Familiengeschichte(n) genau diese Akkommodation von Wissen statt – sofern Überlieferungen vorliegen.

Was ich tun soll, verrät mir Geschichte sicher nicht direkt. Denn auch vermeintlich vergleichbare Ereignisse und Prozesse finden unter mehr oder weniger abweichenden Konstellationen statt. Doch verweisen diese Abweichungen auf blinde Flecke, die ich in meiner Gegenwarts-Verfangenheit nicht wahrnehmen kann. So leben wir heute natürlich nicht in der Konstellation von 1932, als ein Drittel der deutschen Bevölkerung wegen Arbeitslosigkeit von existenzieller Not betroffen war und die junge Demokratie sich noch nicht in einem langen Frieden hatte bewähren können. Dennoch verweist der Blick auf die Krise am Ende der Weimarer Republik mitsamt ihren fürchterlichen Folgen, dem sog. Tausendjährigen Reich, auf die Risiken unserer Tage, wenn sich Teile der Bevölkerung abgehängt fühlen, wenn kommunale und staatliche Strukturen schwächer werden, wenn tribalistisches Denken im neuen Gewand von Social Media Communities stärker wird und wenn rechtsextreme Gewalt verharmlost bzw. nicht als solche benannt wird. Hier verrät mir Wissen um Geschichte zumindest, dass ich die Augen offen halten und – bei Wahrung meiner ethischen Grundsätze – zivilgesellschaftlich mit meinen Mitteln intervenieren soll.

Was ich hoffen darf, vermitteln nicht nur in der Vergangenheit entstandene und evtl. weiterhin etablierte Hoffnungsträger wie Religionen oder optimistisch geprägte Weltanschauungen. Daneben wirken die Kraft eigener Erfahrungen des Bestehens von Herausforderungen seit meiner Geburt sowie ein animalischer Überlebenswille z.B. in schweren Krankheiten – wie der Spruch. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ anzeigt. Das Wissen über historisches Gelingen in der Vergangenheit macht die Überwindung vermeintlicher Ausweglosigkeit denkbar – und damit erhoffbar. Darin liegen vielleicht die starke Mobilisierungskraft, die in den späten 1960er Jahren Willy Brandt mit seiner Entspannungspolitik ausgelöst hat, und die Faszination, die ein Nelson Mandela wecken konnte. 

Bekanntermaßen hat Kant seine drei klassischen Fragen zusammengefasst in der einen Frage: Was ist der Mensch? 

Antwort – unter anderem: Er ist heutzutage ein Wesen, das darum weiß, das es von nachwirkender Vergangenheit umgeben ist. Kurz: Er kennt seine Geschichtlichkeit. Diese Antwort ist nun reichlich eurozentrisch, wenn man weiß, dass die Art von Auseinandersetzung mit Geschichte, wie wir sie im Geschichtsunterricht kennen gelernt haben, eigentlich erst vor ca. 250 Jahren von mittel- und westeuropäischen Intellektuellen entwickelt wurde. Dies geschah im Zuge der Entstehung des modernen Selbstes.

Genau über dieses Selbst hat sich der kanadische Philosoph Charles Taylor (*1931) tiefgründig ausgelassen in seinem Werk „Quellen des Selbsts – Die Entstehung der neuzeitlichen Identität“ (deutsch 1996). Seit der Frühen Neuzeit ist – so Taylor - der europäische Mensch, zuvörderst natürlich der traditionalen Lebenswelten früher enthobene Intellektuelle, einer Rivalität unterschiedlicher Moralquellen ausgesetzt: Neben den Moralprinzipien religiöser Herkunft fordern Normen wie Wissenschaftlichkeit, Naturgemäßheit oder persönliche Authentizität mit dazugehörigem Ausdrucksdrang ihren erklärten Tribut. Das Subjekt muss zwischen diesen Rivalen balancieren und seine Integrität wahren; die neue Literaturgattung „Roman“ insbesondere als Entwicklungsroman verdankt sich dieser Notwendigkeit. Das Selbst wird im 18. Jahrhundert ein anderes als das des Mittelalters oder der Renaissance. Es muss sich in einem mit moralischen Rivalen besetzten Raum definieren – und entdeckt dabei einen neuartigen Blick auf Geschichte: Vergangenheiten, die im Prozess Zukunftshoffnungen wecken. In historischen Erzählungen kann er die Rivalitäten aufheben – in einer neuen Form von Sinn. Die „Geschichte“ selbst bestimme und erkläre das Handeln der Individuen – insbesondere der großen.

Charles Taylor zu lesen lohnt sich deshalb: Er zeichnet einen Seelenraum, dem historisches Denken (und Fühlen) eine Sinnressource bieten kann. 

Ob das in der Post-Moderne immer noch gilt, ist eine weitere philosophische Frage.

- Friedemann Scriba