Spuren suchen - oder: Vom wirkmächtigen Verborgenen

Zur Idee der „Spur“ beim Dichter und Literaturwissenschaftler Édouard Glissant

Wer es wissen will, kann es wissen. Denn anti- und post-koloniale Denker aus den ehemaligen Kolonien in Schwarzafrika oder Asien werden gelegentlich ins Deutsche übersetzt - und sie schaffen es dann auch in deutschsprachige Feuilletons, in Radiosendungen oder in preisgünstige Lizenzdrucke ihrer Werke bei der Bundeszentrale für Politische Bildung.

So der indisch-britische Essayist Pankaj Mishra (* 1969) mit seinen Büchern „Aus den Ruinen des Empires - Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“ (deutsch 2013) oder „Das Zeitalter des Zorns - Eine Geschichte der Gegenwart“ (deutsch 2017), in denen er herausarbeitet die intellektuelle und politische Revolte gegen die mentale, wirtschaftliche und politische Kolonialisierung schon im 19. Jahrhundert sowie deren Nachwirkungen in den nach-kolonialen Gesellschaften und die Rückkopplungseffekte heute.

So auch der Philosoph Achille Mbembe (*1957 in Kamerun), der mit seiner „Kritik der Schwarzen Vernunft“ (deutsch 2014) nachzeichnet, wie seit den Versklavungsaktionen des 16. Jahrhunderts Schwarzafrikaner systematisch entwurzelt und ihrer physischen und psychischen Identität beraubt wurden, welche Langzeitkonsequenzen früherer Rassismus bis heute hat und welche Mühen von Selbstbehauptung „Schwarze“ qua Hautfarbe und sichtlich befremdeter Blicke insbesondere durch „Weiße“ immer noch haben (müssen).

Man kann also wissen, dass Rassismus früherer Jahrhunderte und seine Folgen immer noch nicht abgegolten sind.

In diesen Kontext hinein schrieb auch Édouard Glissant (1928-2011), geboren auf Martinique in der Karibik und später stark aktiv in den Intellektuellenkreisen von Paris, der Hauptstadt der früheren Kolonisatoren seiner Heimat, deren Bevölkerung fast gänzlich von Sklaven abstammt. „Spur“ und „Kreolisierung“ sind seine Worte, um Phänomene und Befindlichkeiten in der post-kolonialen Karibik zur Sprache zur bringen.

*

„Die Höhle des Sklavenschiffs ist der Ort, an dem die afrikanischen Sprachen verschwinden, denn auf dem Sklavenschiff, wie übrigens auch auf den Plantagen, wurden Menschen, die die gleiche Sprache sprachen, voneinander getrennt. So wurden den Menschen die letzten Dinge des Alltäglichen genommen, zuallererst die Sprache.“ Mit dieser Formulierung drückt Glissant aus, was es bedeutet, in der von Mbembe beschriebenen Weise entwurzelt zu sein. Es bleibe das Gefühl, stumm zu sein in einer fremden Welt, die meine Stimme nicht kennt, und auch in meiner eigenen Welt, weil diese sich nicht mehr mitteilen lässt. In der Konsequenz: Hier ist so etwas wie der Nullpunkt jeder Identität erreicht.

Statt Sprache seien den Sklaven lediglich ihre Rhythmen geblieben - und damit spezielle musikalische Ausdrucksformen, die das Nicht-mehr-Sagbare in sich einkapselten und als verborgene Spur tradierten. Das Eingekapselte habe sich in unvorhergesehener und unvorhersehbarer Weise Bahn gebrochen, insbesondere in neu geschaffenen musikalischen Ausdrucksformen wie dem Jazz oder den Kreolsprachen. Der Jazz sei Sinnbild einer solchen Spur, die sich europäisch-westlichem Systemdenken widersetze. Das Wesen des Jazz ist, wie allgemein bekannt, im Kontrast zur europäischen Klassik mit ihren Regelwerken: seine Unvorhersehbarkeit. Glissant bringt im Kontakt zwischen den Kulturen das Moment der Unvorhersehbarkeit in Stellung.

*

Unvorhersehbarkeit bestimmt - auch bei intensiver Vorbereitung - immer wieder interkulturelle Begegnungen. Denn es ist immer damit zu rechnen, dass jemand in sich „Spuren“ früherer Erfahrungen trägt, die sich nicht im vorhinein versprachlichen, sondern plötzlich aufgrund einer Situation heftigst an die Oberfläche drängen. Überraschend.

So geschah es vor einigen Jahren im Münchner Museum „5 Kontinente“ (früher Ethnologisches Museum), dass im Rahmen eines Orientierungskurses ein aus Nigeria stammender Asylbewerber sich vor einer Vitrine mit einem Kultgewand seines Herkunftstammes und Masken mit Schnitten auf der Wange erst in Ekstase tanzte, das Gewand bzw. das Vitrinenglas abstrich, dann in sich zusammensackte, den Boden vor der Vitrine küsste und sich dann traurig wieder aufrichtete: Er sei in der Familie der Einzige, der dieses Gewand tragen dürfe, die Schnitte habe auch seine Mutter auf der Wange gehabt, und, wer dieses Gewand Fremden verkauft habe, habe sterben müssen. - Die ursprünglich anders angelegte Zielsetzung dieser Museumsexkursion hat hier eine Spur aufbrechen lassen, mit der zuvor niemand gerechnet hatte. Es war unvorhersehbar - und bringt in Europa gewachsene Vorstellungen von „Ausstellen im Museum“ ins Rutschen (nicht nur wegen der öffentlich diskutierten Frage nach dem rechtmäßigen Erwerb von Exponaten in Museen ehemaliger Kolonialmächte).

Wer von solchen Begebenheiten erfährt (oder sogar dabei gewesen ist), geht anders in solche Museen als zuvor. Eine neuartige Erfahrung mit den Objekten für alle Beteiligten, eine Vermischung unterschiedlicher Umgangsweisen, somit ein Stück Kreolisierung für alle.

*

Kreolisierung ist ein Prozess, in dem neue Ausdrucksweisen entstehen durch Zusammensetzen erkennbarer Elemente und das Aufbrechenlassen von bislang verborgenen Spuren. Als Kreol-Sprachen gelten solche, die mit einer Basissprache Vokabeln, Ausspracheregeln und Grammatik-Strukturen aus anderen Sprachen kombinieren - wie es im karibischen Raum zur Zeit des Sklavenhandels im 17./18. Jahrhundert geschehen ist. Sieht man Kreolisierung als einen über das rein Sprachliche hinausreichenden kulturellen Prozess, dann kann man von Glissant lernen: Interkulturelle Begegnungen führen immer zu neuen Mischungen - und sei es auch nur deshalb, weil sich niemand der Sogkraft von Andersartigkeit im eigenen Lebensumfeld wirklich entziehen kann.

Wenn Kreolisierung bedeutet, dass sonst nicht beachtete Spuren so zu ihrem - nach einer Vergangenheit des Identitätsraubs nunmehr noch möglichen - „Recht“ kommen, dann wird offensichtlich, dass ein neuer Mix entsteht.

Der neue Mix ist unvermeidlich.

Nehmen wir dies als Ressource für uns selbst und unser Zusammenleben an!

Verstehen wir uns besser!

*

François Julliens „Abstand“ in Abgrenzung gegen Konzepte vermeintlich eindeutig abgrenzbarer Identitäten,

Thomas Bauers „Ambiguität“ gegen den Zwang zur Eindeutigkeit sowie

Edouard Glissants „Spur“:

Dies waren die Themen der Serie von drei Blogs, die Sie zu vertieftem Nachdenken über Interkulturelles einladen und Sie auf die Denkwoche „Sich verstehen - Nachdenken über Interkulturalität“ neugierig machen wollen.

Je nach Ihrem Interesse können in dieser Denkwoche auch weitere Autoren wie Homi Bhabha (der „Dritte Raum“), Andreas Reckwitz („Hyper-Kultur“) und Frank Griffel („Ambiguitätstoleranz“) zur Sprache kommen. Alternativ biete ich Ihnen einige Übungen zur praktischen Anwendung interkulturellen Verstehens an - z.B. zu direkter und indirekter Kommunikationsweise, zum Verhältnis zu Hierarchien und Statusunterschieden, zu Hintergrundhaltungen im Umgang mit Zeit und Absprachen.

Jedenfalls erwartet Sie freudig auf Château d’Orion mit Pyrenäenblick vom Sonntag 26.7. bis Samstag 1.8.2020 zur Denkwoche “Einander Verstehen - Nachdenken über interkulturelle Begegnung”

Dr. Friedemann Scriba

www.scriba.berlin