Glück und Unglück

Die Frage nach dem guten Leben beschäftigt die Philosophie schon seit der Antike. Der griechische Philosoph Aristoteles sagte in seiner Nikomachischen Ethik, dass alles – jede Entscheidung und jede Handlung – nach einem Gut, einem Ziel strebe. Er behauptete weiterhin, dass es verschiedene Handlungen und damit unterschiedliche Ziele gebe. Diese seien einander entweder über- oder untergeordnet. Das jeweils höhere Ziel sei dabei das wertvollere. Ziel einer Ausbildung sei die anschließende Ausübung einer Tätigkeit, die uns wiederrum in die Lage versetzt, unseren Lebensunterhalt zu finanzieren. Ein gesichertes Einkommen ermöglicht uns die Gründung einer Familie und die Versorgung eben dieser, etc. Aristoteles behauptet nun, dass unser Streben leer und sinnlos wäre, wenn es nicht ein Endziel gebe, um dessentwillen wir alle anderen Ziele anstreben. Das vollkommenste Ziel liegt für ihn in der Glückseligkeit. Alle Menschen wollen letztendlich glücklich sein, d.h. ein gutes Leben führen. Worin diese aber besteht, darüber streiten sich die Leute. Der griechische Philosoph führt als mögliche Kandidaten das Leben der Lust, der Ehre, des Reichtums oder die Lebensweise des Philosophen an. Da sich der Mensch vor allem durch Vernunft auszeichnet, sei ein Leben gemäß dem Gebrauch eben dieser das wertvollste. Am glücklichsten sind für Aristoteles also die Philosophen, deren tägliches Geschäft in der Tätigkeit des Denkens besteht. Eine Welt, die nur von Denkern beherrscht wird, sei jedoch nicht realistisch, ja eigentlich auch nicht wirklich wünschenswert. Gute Aussichten auf ein glückliches Leben hat daher dem griechischen Philosophen zufolge auch derjenige, der tugendhaft, also moralisch handelt. Tugenden sind das rechte Maß von Affekten und Handlungen, z.B. Besonnenheit, Mut, Gerechtigkeit, etc. Um Tugenden in uns auszubilden bedarf es eben auch der Vernunft, denn nur durch kluges Nachdenken können wir bestimmen, in welcher Situation, zu welcher Zeit, an welchem Ort und welchen Personen gegenüber eine Handlung tatsächlich als gerecht gelten kann. Das gute, glückliche Leben und Moral sind damit bei Aristoteles unmittelbar miteinander verbunden.

Über die Frage, ob ausgerechnet die Lebensweise des Philosophen oder Moralapostels uns zum Glück führen wird, lässt sich streiten und vermutlich würden hier sogar die wenigsten übereinstimmen. Überzeugender hingegen scheint seine These zu sein, dass Glück letztendlich das ist, was alle Menschen erstreben. In der Tat, insbesondere in unserer heutigen Spaß- und Konsumgesellschaft ist das Glück omnipräsent. Am liebsten wollen wir zu jeder Zeit positive Gefühle erleben und tun alles, um die negativen zu vermeiden. Vielleicht verfolgt der ein oder andere sein Glück sogar so verbissen, dass er dabei keine Rücksicht mehr auf seine Mitmenschen nimmt oder aber – auf dem Weg zum Glück – ganz vergisst, wirklich glücklich zu sein. Dieses unermüdliche Streben nach Glück führt laut Seneca, ein weiterer griechischer Philosoph, sogar dazu, dass wir das eigentliche Ziel, also das Glücklichsein aus den Augen verlieren, wir kommen sozusagen vom rechten Weg ab, ja entfernen uns sogar mehr und mehr von ihm. Heutzutage erhalten wir täglich Hinweise darauf, was uns glücklich macht. Sei es auf Plakaten, in der Werbung, in zahlreichen sozialen Netzwerken, etc. „Influencer“ ist inzwischen ein nahezu anerkannter Beruf. Junge Menschen teilen ihr Leben auf digitalen Kanälen wie Instagram und zeigen ihren „Followern“, welche Wege uns zur Glückseligkeit führen. Diverse Sportprogramme, Yoga, bestimmte Rezepte und Nahrung, ein besonderer Kleidungsstil und Reiseziele, eine bestimmte Art und Weise der Inneneinrichtung und Pflanzendekoration, etc. sollen uns die Erfüllung bringen. Dass mein persönliches Glück aber vielleicht ganz anders aussieht als das eines bestimmten Influencers – und dieser steht nur stellvertretend für irgendein Vorbild, sei es auch im echten Leben – gerät dabei zuweilen in Vergessenheit. Wir jagen dem Glück hinterher, vergleichen uns mit anderen, messen uns mit anderen, und vergessen immer mehr, den tatsächlichen Inhalt dieses Glücks zu hinterfragen.

Es ist nun in der Tat schwierig zu bestimmen, worin es besteht, eben weil es von Mensch zu Mensch so verschieden sein kann. Wilhelm Schmid macht jedoch immerhin die hilfreiche Unterscheidung zwischen drei verschiedenen Arten des Glücks. Da gibt es einerseits das Zufallsglück. Es zeichnet sich dadurch aus, dass wir keinen Einfluss auf es nehmen können. Es sucht uns gewissermaßen auf – und zwar dann, wenn wir nicht damit rechnen. Es kann ein besonders schöner Regenbogen sein, den wir nur zufällig zu Gesicht bekommen, weil wir zu Fuß etwas Wichtiges zu erledigen haben und eigentlich völlig genervt vom anhaltenden Regen sind. Genauso gut können wir zufällig eine schöne Bekanntschaft machen, oder Ähnliches. Wäre dies die einzige Form des Glücks, wäre es doch auch ein wenig frustrierend. Angenommen, Glück sei tatsächlich das höchste Gut, das wir erstreben, dann wären all unsere verzweifelten Versuche, dieses zu erreichen, vergeblich.

Schmid bringt aber eine zweite Art des Glücks ins Spiel, nämlich das sogenannte Wohlfühlglück. Wie auch das Zufallsglück, ist es nicht von großer Dauer. Es gibt uns für eine Weile ein gutes Gefühl, verpufft aber recht schnell wieder. Im Gegensatz zum Ersteren kann das Wohlfühlglück aber ganz gezielt aufgesucht werden. Im Idealfall wissen wir, dass uns bestimmte Sachen glücklich machen, z.B. eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen am Nachmittag, ein Gespräch mit einem guten Freund, ein Spaziergang in der Natur, etc. Wenn es uns also nach Glück dürstet, oder wir auch nur versuchen wollen, einer unglücklichen Phase zu entkommen, dann können wir auf diese Dinge zurückgreifen. Wir bleiben nicht ohnmächtig oder untätig, sondern wir können ganz bewusst etwas für unser Glück tun.

Für Wilhelm Schmid gibt es jedoch noch eine dritte Form des Glücks und ihre Wichtigkeit möchte ich anhand eines bekannten philosophischen Gedankenexperiments illustrieren. Robert Nozick stellt sich eine sogenannte Erlebnismaschine vor. Lässt man sich an diese Maschine anschließen, so wird sie einem jedes gewünschte Gefühl eines schönen Erlebnisses vermitteln. Tatsächlich aber schwimmt der eigene Körper in dieser Zeit nur in einem Becken und das Gehirn ist an Elektroden angeschlossen. Alle zwei Jahre kann man aus dem Becken aussteigen und aus einem großen Katalog immer wieder neue Erlebnisse auswählen – z.B. das Gefühl, einen Roman zu schreiben, eine Reise zu unternehmen, sich zu verlieben, etc. Kurzum: sie würde einem jedes erwünschte Glücksgefühl bescheren. Gewisse Fragen und Schwierigkeiten wie etwa jene, wer die Maschine bedient, was mit jenen ist, die sich nicht anschließen lassen wollen oder die Frage, inwiefern unsere Freiheit angesichts eines solchen Katalogs eingeschränkt wäre, wollen wir hier außen vorlassen. Hätte Aristoteles Recht mit seiner Auffassung, dass alles nur nach dem Glück strebt, dann wäre es doch gar keine schlechte Idee, sich an eine solche Maschine anschließen zu lassen. Ein durch und durch glückliches Leben ohne jegliche Hindernisse klingt doch verlockend. Und doch – so behaupte ich – würde sich niemand daran anschließen lassen wollen. Schmid selbst führt drei Aspekte auf, die uns daran stören könnten: 1) wollen wir tatsächlich etwas tun und nicht bloß den Eindruck haben, etwas zu tun, 2) wollen wir eine bestimmte Person sein und eine solche wäre vor dem Hintergrund eines Lebens an der Maschine irrelevant, 3) wären wir durch eine solche Maschine an eine von Menschen konstruierte Wirklichkeit beschränkt.

Als ich meine Schüler fragte, was sie an einer solchen Maschine am meisten stören würde, antworteten sie, dass es zwar bequem sei, sie sich aber gar nicht mehr anstrengen müssten und sie damit auch nichts mehr hätten, worauf sie wirklich stolz sein könnten. Im Grunde trifft das Nozicks Auffassung, der abschließend Folgendes sagt: Alle drei Probleme ließen sich mit Hilfe weiterer Maschinen beheben – so könnten wir beispielsweise eine weitere Maschine konstruieren, die uns zudem das Gefühl gibt, eine bestimmte Person zu sein, die wir ebenfalls in einem Katalog auswählen, sozusagen frei zusammenstellen können. Und doch wäre da immer noch etwas, was uns gewaltig stören würde, nämlich die Tatsache, dass eigentlich nicht ich, sondern vielmehr die Maschine mein Leben für mich lebt. Lieber würden wir also Mühen, Anstrengungen, vielleicht auch Misserfolge in Kauf nehmen, wenn wir hinterher glücklich von uns sagen können: „Aller Widrigkeiten zum Trotz habe ich es geschafft!“

Eine dritte Form des Glücks stellt für Wilhelm Schmid also das Glück der Fülle dar. Es besteht für ihn in der Akzeptanz von Erfolg und Misserfolg, von Zufriedenheit und Unzufriedenheit, von Lust und Unlust, etc. Gerade die Polarität mache das Glück aus und somit die Erkenntnis, dass es Wahres Glück ohne etwas Unglück nicht geben kann. Vielmehr als immer nur blind dem Glück hinterherzujagen sollten wir unser „Recht auf Unglücklichsein“ einfordern und positiv anerkennen. Gerade aus dem Unglück kann zuweilen Positives entstehen. Oft sind es die unglücklichen Künstler, die die größten Werke vollbringen. Nur weil es oft viel Unglück auf der Welt gibt, sind wir darum bemüht, unsere Welt zu verbessern. Wären wir alle zu jeder Zeit glücklich, dann würden wir gewissermaßen stagnieren und unser Glück vermutlich irgendwann gar nicht mehr sehen. Es wäre schließlich alltäglich, gewöhnlich. Ein Schüler versuchte den Wert des Unglücks für das Glück mathematisch zu erklären. Wenn die Zahl Null Glück und Unglück voneinander trenne und wir nun alles, was unter die Zahl Null fällt, streichen würden, dann würde das Glück doch gewissermaßen seinen Wert verlieren. Obwohl es irritierend scheint, an das Glück, das doch eigentlich so untrennbar mit Emotionen, unseren Gefühlen, verbunden ist, derart mathematisch heranzutreten, gefällt mir daran folgende Einsicht: Sowohl das Glück als auch das Unglück sind stets in Relationen zu sehen. Wären wir nie unglücklich, dann wären wir uns unseres Glückes weitaus weniger bewusst. Je mehr Unglück wir bereits erfahren mussten, desto mehr können wir die positiven Momente schätzen.

Glück ist außerdem situationsabhängig. Angesichts der Flüchtlingskrise 2015 wurden einige Betroffene gefragt, was sie in ihrem Leben am dringendsten bräuchten, was sie glücklich macht. Während viele Menschen möglicherweise so etwas wie Entspannung, erfüllende Tätigkeiten oder gar luxuriöse materielle Güter aufzählen würden, nannten Flüchtlinge ihr Handy, Schlaf und Frieden. Obwohl es wichtig ist, seine eigene Situation hin und wieder mit der Situation anderer Menschen zu vergleichen und zu relativieren, ist es nicht sinnvoll, sich für seine eigenen Bedürfnisse, die angesichts anderer, viel grundlegenderer Bedürfnisse, so klein erscheinen, zu schämen. Unsere Bedürfnisse und Glücksvorstellungen sind eben immer in Relation zu dem zu sehen, was wir kennen, was wir täglich erleben. Noch vor ein paar Wochen hätte sich niemand vorstellen können, den Geburtstag eines Familienangehörigen vom Balkon aus, mit einiger Entfernung voneinander zu feiern. Und doch kann ein solcher Augenblick in Zeiten von Corona, Ausgangsbeschränkung und Kontaktverbot ein glücklicher Moment sein.

Wenn wir uns also daran gewöhnen, unsere Glücksvorstellungen ein wenig herunterzuschrauben, dann können wir auch die kleinen Dinge wieder besser sehen. Die Corona-Krise hat dazu geführt, dass eben jene Spaß- und Konsumgesellschaft nun brach liegt. Wo wir sonst stets darum bemüht sind, von Event zu Event zu jagen, zu konsumieren und uns in Form weiterer Genuss-Dienstleistungen Gutes zu tun, sind wir nun auf unser Zuhause und einen ganz kleinen Umkreis beschränkt. Trotz diverser Einschränkungen – auch Freiheitsbeschränkungen -, trotz Angst, Krankheit und möglicherweise Verlust, gelang es meinen Schülern, Glücksmomente in einer Happy Days Challenge festzuhalten. So schön das Zufallsglück auch sein mag und so wichtig es ist, dass wir bewusst für kleine Momente des Wohlfühlglücks sorgen können, das Glück der Fülle scheint doch das Beständigste unter ihnen zu sein, denn es räumt eben auch dem Unglück einen zentralen Platz ein.

Wenn aber gar nicht das Glück, sondern gerade das Zusammenspiel von Glück und Unglück das Wichtigste im Leben ist, hat Aristoteles mit seiner bekannten These, dass alles letztlich nur nach dem Glück strebt, dann Unrecht? Vermutlich ist es in der Tat so, dass eine zu starke Konzentration auf das Glück gerade das Gegenteil bewirkt. In unserer Hast vergessen wir möglicherweise, was uns denn eigentlich glücklich macht. Auch nehmen uns unglückliche, oder auch nur mäßig zufriedene Momente umso mehr mit, wenn wir sie stets mit glücklicheren messen. Ist es aber so, dass wir das Glück erst erreichen, wenn wir aufhören, danach zu streben?

Letztendlich behält der griechische Philosoph vielleicht dennoch Recht. Wir alle wollen am Ende unseres Lebens sagen, wir haben ein glückliches Leben geführt. Ein solches – und so würde auch Aristoteles sagen – besteht aber eben nicht nur aus den kurzzeitig erlebten Glücksmomenten, in denen unser Körper regelrecht von Hormonen überschüttet wird. Glück, so sagt er, ist etwas Dauerhaftes. Sogar etwas, das sich erst am Ende unseres Lebens feststellen lässt. Für ihn besteht es in einer lebenslangen Einübung und Ausübung von Tugenden und dementsprechend in einer bestimmten Formung des Charakters. Ein Charakter, der sich gerade nicht nur um seine eigenen Bedürfnisse kreist, sondern auch seine Mitmenschen in den Blick nimmt. Wir nehmen Mühen, Anstrengungen und Unglück in Kauf – ja wollen diese sogar in Kauf nehmen. Aber nur, um schließlich eben doch unser Endziel umso stolzer zu erreichen: das Glücklichsein.

Philea