Die Vorsilbe „trans“ oder: Vom Überschreiten des Gewohnten - ein Rückblick auf die Denkwoche "Einander Verstehen"
Latein- oder Französisch-Kenntnisse sind sicher oft von Vorteil. Aber selbst bei einer Diskussion um Vorsilben kommt man auch ohne sie aus. Dass „inter“ so etwas wie „zwischen“ heißt, kennt man aus Wörtern wie „inter-national“ oder auch „inter-kulturell“. Dass „trans“ so etwas heißt wie „über … hinüber“, verraten einem Worte wie „Trans-port“. Etwas wird hinübergetragen, über eine Grenze hinweg.
Ob das, was wir spontan mit „interkulturell“ verbinden, mit diesem Wort wirklich angemessen zur Sprache gebracht ist, darüber streiten nicht nur die Gelehrten. Sondern auch Teilnehmende der Denkwoche, die coronabedingt Ende Juli 2020 die erste im Kranz solcher Wochen auf Château d’Orion war. So transportiert ein nett klingendes Wort wie „multi-kulturell“ bei genaue Hinhören Untertöne: Es stünden inselartig getrennte Kulturen mit ihren nicht veränderbaren Wesenskernen nebeneinander - möglichst ohne Beziehung miteinander (wie es sich im politischen Raum Neue Rechte und Identitäre wünschen). So transportiert das ebenfalls nett klingende Wort wie „inter-kulturell“ das Gleiche - allerdings Beziehungen, etwa Fährverbindungen, zwischen diesen getrennten Inseln anerkennend. Dagegen transportiert das seltener gebrauchte Wort „transkulturell“ etwas Anderes: Durch einen Kontakt vermeintlich getrennter Kulturen entstünde letztlich etwas Neues, Drittes - vielleicht der Himmel, der die Inseln und ihre Fährverbindungen überwölbt. Ein größeres Ganzes also. Lassen wir nun historische oder zeitgenössische Kulturkontakte Revue passieren, kommen wir schnell zum Ergebnis, dass „trans-kulturell“ eigentlich am ehesten abbildet, was in solchen Begegnungen passiert.
Insofern müssten die Branchen der betrieblichen und der politischen Weiterbildung eigentlich Trainingsveranstaltungen zu „transkultureller Kompetenz“ anbieten. Auf dem realexistierenden Markt jedoch würden sich kaum Teilnehmende finden, schon „interkulturell“ ist für viele recht verwegen. So bestimmt die Macht des Marktes den Sprachgebrauch… Deshalb: Gezielter und breiter lancierte öffentliche Diskurse sollten tatsächlich für einen anderen Sprachgebrauch werben - auch um die Reste des Trennenden allmählich ganz zu marginalisieren.
Eine besondere Note gewinnt ein solcher Diskurs um Vorsilben, wenn er sich auf Religion richtet: Ein „interreligiöser Dialog“ scheint doch etwas unheimlich Verbindendes zu sein - angesichts der hochgerüsteten Wahrheitsansprüche besonders der monotheistischen Religionen und ihrer Lehrtraditionen, angesichts der Gewalttaten, Kriege und Massenmorde innerhalb der Religionsgemeinschaften und zwischen ihnen. Das in Berlin geplante House of One soll um einen nur durch einen Zugang erreichbaren Hof herum für jede der drei Religionen einen eigenen Gebetsraum haben: Dieses Konzept bildet Inter-Religiosität ab. Reicht das? Oder blendet es doch aus, dass in Religion, Glauben oder Spiritualität ausgedrückte Weltverhältnisse von Menschen jenseits der jeweiligen Inseln liegen? Der Begriff „Trans-Religiosität“ würde solche Weltverhältnisse adäquat beschreiben - aber auf den heftigsten Widerstand vor allem derjenigen stoßen, die qua religiöses Lehramt bestimmen wollen, wie Menschen zu leben, zu denken, zu fühlen und zu lieben haben. Ist es auch hier so, dass durch Macht konditionierte Sprache Resonanzräume versperrt, für die viele Menschen offen und bereit sind?
Wenn - wie Wittgenstein formulierte - die Sprache auch mit ihren neu geschaffenen Worten Wirklichkeit schafft: Wer oder was verhindert aus welchen Gründen, dass sich Wirklichkeitsschöpfungen mit der Vorsilbe „trans“ in Sachen Kultur und Religion verbreiten? Feministische Antwort: Männer mit ihren über Jahrhunderte und Jahrtausende geschaffenen Machtstrukturen. Doch zur Aufrechterhaltung der nicht ausgesprochenen Tabus gehören alle. Wenn es stimmt, dass Familien, Gruppen, Gesellschaften nicht durch das zusammengehalten werden, was sie als Gemeinsamkeit verkünden, sondern durch das, worüber sie schweigen: Dann fürchten sie offenbar, im „trans“ ihren Kitt zu verlieren, sich aufzulösen, nicht mehr zu funktionieren. Diese letzten Gedanken sind in der Denkwoche nicht mehr zum Thema geworden - sondern führen weiter hinaus, vielleicht zu einer weitergreifenden Denkwoche….
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Diese Begriffsarbeit scheint lediglich ein rein akademisches Glasperlenspiel zu sein. Doch lenkt sie schließlich ins Eingemachte des Zusammenhaltes von Gesellschaften, die im Zeitalter von Globalisierung immer häufiger zwischenmenschliche Begegnungen ohne klares, eingespieltes Regelwerk zum Gelingen bringen müssen. Die Branche des Interkulturellen Trainings versucht, dazu durch geeignete Tools und durch weiterführende Hintergrundideen beizutragen. Nämlich: Sich zu verstehen - sich selbst wie auch das Gegenüber.
In diesem Globalisierungsprozess gerät vor allem die in den letzten 500 Jahren hegemonial gewordene europäische Philosophie- und Denkweise unter Rechtfertigungsdruck. Am Beispiel François Julliens, des französischen Philosophen und Sinologen, hat diese Denkwoche gezeigt, dass andere sog. Hochkulturen auch intellektuell mit anderen sprachlichen Strukturen und anderen Konzepten Welt erfassen und daraus Normen ableiten. Interkulturell denken heißt hier, im Verhältnis zur Welt ggf. switchen zu können - und evtl. auch nicht alle Widersprüche mit den trennenden, immer etwas ausschließenden, wegdefinierenden Seziermesser aristotelisch-cartesischer Denktradition wegdrängen zu wollen. Selbstverständlich kann inter- oder transkulturelles Denken nicht bedeuten, nun die europäischen Denkweisen zu verbannen und nur noch aus konfuzianischer oder sonstiger Tradition heraus ein Verhältnis zur Welt zu denken. Sondern: Durch verschiedene Muster die Welt betrachten und die unterschiedlichen Ergebnisse schätzen und ggf. auch nutzen lernen.
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Mit Berufung auf Konfuzius und dessen Tradition, mit Berufung auf die widerspruchs- und ambiguitätstoleranten Diskussionstraditionen in Talmud- und Thora-Schulen sowie in den großen Bibliotheken muslimischer Herrscher und in den debattenoffenen Schriften von Rechtsgelehrten in vielen Moscheeschulen des Osmanischen Reiches kann man die europäischen Denktraditionen relativieren, ihnen ihren Platz zuweisen und sie nutzen. Mit dem Risiko, auch die vermeintliche oder tatsächliche Universalität von Menschenrechten und wissenschaftlichen Normen besser begründen zu müssen, als es bisher geschehen ist. Dieses Risiko ist ein intellektuelles, das durch eine solche Auseinandersetzung am Ende zu mehr Klarheit führen kann.
Ein anderes Risiko dabei schaffen die politischen Implikationen solcher Akzentuierungen: Fokussiere ich im Interesse, größere geistige Beweglichkeit anstiften zu wollen, ganzheitliche oder ambiguitätstolerante Denkwelten anderer Kulturen und lanciere diese in öffentliche Diskurse z.B. in Deutschland, riskiere ich eine Unterbelichtung der fundamentalistischen, puristischen, gewaltbejahenden Strömungen auch dieser Traditionen, produziere ich eine idealisierende Fehlbelichtung - welche sich dann z.B. islamistische Lobbyverbände und Kommunikationsstrategen zwecks Erringung entsprechender kultureller Hegemonie zunutze machen. Ein nicht zu unterschätzendes Risiko - vor allem dann, wenn hinter dem eigenen inter- oder transkulturellen Engagement andere, nicht wirklich eingestandene Motive stehen wie etwa im nachfaschistischen Deutschland: Nie wieder Rassist sein, nie wieder schuldig werden oder die Schuld der Großeltern durch politische Korrektheit abarbeiten zu wollen.
Doch darf die Angst vor falschen politischen Verbündeten nicht dazu führen, nicht-europäische Denktraditionen mit ihren fruchtbaren Anteilen nicht aktiv in europäischen Öffentlichkeiten zu platzieren. Das Ethos des Denkens verlangt auch hier schrankenlose Klarheit ohne Tabus. Politisch muss der Kampf gegen die Fundamentalisten, gegen die Unterwanderer, gegen die Meinungsmanipulatoren geführt werden. Je mehr wir - einen Ausdruck Julliens aufgreifend - die Fruchtbarkeit verschiedener Denkstile und Weltverhältnisse zulassen und deren Früchte ernten, desto souveräner werden wir im menschlichen Miteinander - und desto steriler werden die Fundamentalismen jeder Couleur, ihre vermeintlich identitätssichernde Attraktivität verlierend.
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Die Denkwoche beleuchtete zusätzlich die in den vorbereitenden Blogs präsentierten Autoren Homi Bhabha mit dem „Dritten Raum“ und Édouard Glissants „Kreolisierung“, präsentierte verschiedene Kulturtypen mit Merkmalen zur vorläufigen Einordnung - und betrieb auch einiges an Praxis und Bewegung: 10 km Jakobsweg auch mit muslimischer und agnostischer Beteiligung, vergleichende Kulturphänomenologie in den Provinzen des Béarn und des französischen Baskenlandes sowie den Genuss exquisiter Küche aus regionalen Produkten. Wer diese Aspekte solcher Denkwochen genauer kennen will, muss sich einfach zu einer nächsten Denkwoche anmelden. Da - wie dieser Blog zeigt - noch längst nicht alles bis zu einem Schlusspunkt diskutiert wurde, bedarf es weiterer Denkwochen.
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Da kann man sich treffen. Auch im Geiste Rumis, des persischen Dichters, Theologen und Sufi des 13. Jahrhunderts: „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“
Dr. Friedemann Scriba
www.scriba.berlin