Grund zur Hoffnung - Albert Camus und die Überwindung des Absurden

What are we fighting for? What do we live for? What do we pray for? What do we die for? What are we doing here?

... Diese Zeilen singt Jocelyn B. Smith im Konzert in Château d'Orion und richtet die Fragen an ihre Zuhörer. Es war einer jener letzten Momente unserer Hauptsaison 2018. Sie bildeten das Ende einer wundervollen, aufregenden Zeit und leiteten eine neue Zeit ein. Eine ruhigere Zeit und damit eine Zeit, wo wir uns diesen existentiellen Fragen wieder verstärkt zuwenden können. Es handelt sich um die Frage nach dem Sinn in unserem Leben und damit die philosophische Frage schlechthin, auch wenn sie einige Philosophen zu umgehen versuchen. Vertreter des philosophischen Existentialismus hingegen machen diese Frage gerade zum Ausgangspunkt ihrer Reflexionen und über einen von ihnen werden wir in der kommenden Saison 2019 sprechen: Albert Camus – derjenige, der die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens vielleicht am konsequentesten zu Ende gedacht hat.„Nicht geboren zu sein, ist das Beste.“, sagt Camus. Wenn das wirklich so ist, dann stellt sich die Frage, ob es nicht besser ist, unserem elendigen Leben ein Ende zu setzen. Genau das ist für Camus die dringendste Frage, die die Philosophie zu beantworten hat. Ist Suizid besser? Und wenn nicht, was lässt uns dennoch weiterhin kämpfen, beten, leben und handeln? Wozu tun wir all das? Glücklicherweise ist Camus nicht einfach nur hoffnungsloser Pessimist, sondern hat eine Antwort für uns parat. Ob sie für jeden einzelnen von uns wirklich die Antwort ist, die wir brauchen, muss am Ende jeder selbst für sich entscheiden. In Vorbereitung auf unsere Denkwoche mit Camus und während der ruhigen Wintermonate ist es dieser Philosoph aber sicherlich wert, dass wir über seine Ideen ein wenig nachdenken.Wie viele Existenzphilosophen geht Camus zunächst vom Individuum aus. Er fragt sich, was jeden einzelnen von uns am Leben hält, wo dieses Leben doch eigentlich sinnlos ist. Um zu verstehen, was er damit meint, hilft es, sich seine viel zitierte Metapher des Sisyphos vor Augen zu führen. Sisyphos wird von den Göttern bestraft und soll nun für den Rest seines Lebens einen schweren Stein einen Berg hochrollen. Oben angekommen, wird dieser Stein immer wieder nach unten rollen und Sisyphos ist sich dessen bewusst. Obwohl dieses Unternehmen zutiefst sinnlos ist, darf er nicht aufhören. Sinnlos ist es zum einen, da seine Anstrengungen zu nichts führen. Sinnlos ist es zum anderen, da er abgesehen von seiner Strafe nicht weiß, wozu seine Tätigkeit eigentlich gut sein soll. Sisyphos ist für Camus das Sinnbild für die im wahrsten Sinne des Wortes schwere Last des menschlichen Lebens, die wir alle zu tragen haben.Es geht Camus nicht bloß darum, dass verschiedene Momente, Episoden oder Phasen des menschlichen Lebens als sinnlos empfunden werden. Dieses Gefühl kennen wir alle. Ihm geht es vielmehr darum, dass das Leben als Ganzes sinnlos ist und damit nicht um die Frage, warum soll ich dieses oder jenes tun, sondern warum soll ich überhaupt noch irgendetwas tun. Und kennen wir dieses Gefühl auch? Ich behaupte ja. Jeder, der ein einigermaßen ausgeprägtes philosophisches Gemüt hat, wird sich diese Frage in verschiedenen Momenten seines Lebens stellen. Wir sprechen dann oft von Sinnkrisen. Für Camus entstehen diese Krisen aber nicht bloß aufgrund bestimmter Ereignisse. Sie sind nicht neu und erscheinen uns nicht ganz plötzlich. Für ihn sind diese Fragen immer in uns und während derartiger Sinnkrisen nehmen wir sie wieder verstärkt wahr.Wie genau ist diese Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens als Ganzes nun aber zu verstehen? Vielleicht wird sie deutlicher, wenn wir einen Blick auf einen anderen Existenzphilosophen werfen. Sartre sagt: Die Existenz geht der Essenz voraus. Diese These ist die Basis seiner Existenzphilosophie und sie lässt sich auch auf Camus anwenden. Sartre vergleicht das menschliche Leben mit einem Gegenstand. Nehmen wir beispielsweise einen Bleistift. Bevor dieser Bleistift überhaupt produziert wird und damit in der Welt existiert, gibt es bereits einen Hersteller, der weiß, wozu dieser Stift dienen soll und wie er dementsprechend beschaffen sein muss. Dies gilt nicht für den Menschen. Hier gibt es laut Sartre keinen Hersteller, sei es Gott, der bereits einen vorgezeichneten Plan für den Menschen hat. Der Mensch wird laut Sartre gewissermaßen in die Welt geworfen und erst dann beginnt er, sein Wesen nach und nach zu entwickeln. Das bedeutet aber, dass der Mensch, anders als ein Bleistift, in absoluter Freiheit in die Welt eintritt. Der Mensch hat zunächst keinerlei Orientierung. Er weiß weder, warum er überhaupt auf der Welt ist – ist es bloßer Zufall? – noch weiß er, wohin er gehen soll. Was ist der erste Schritt, den wir in unserem Leben tun und der uns dann weiterführt? Ist auch er Zufall? Diese Freiheit mögen die einen als bedrückend, die anderen als erleichternd empfinden. Tatsache ist jedoch, dass wir damit niemals einen anderen als uns selbst für unser Leben verantwortlich machen können. Spätestens hier kommt vermutlich bei den meisten ein beängstigendes Gefühl auf. Freiheit und Verantwortung sind für Existenzphilosophen zugleich die größte Chance und die größte Last des menschlichen Lebens. Camus geht jedoch noch einen Schritt weiter. Er spricht nicht nur von Freiheit und Verantwortung, sondern auch von einem Paradoxon. Das Paradoxon entsteht dadurch, dass der Mensch auf der einen Seite frei ist zu tun, was er möchte, dass er aber gleichzeitig immer mit einer Welt konfrontiert ist, die ebenfalls tut, was sie will. Der Mensch ist also frei, hat aber eigentlich nur bedingt Kontrolle über sein Leben, denn sein Leben unterliegt nicht nur seiner eigenen Zufälligkeit, sondern auch der Zufälligkeit der Ereignisse um ihn herum, die er nicht steuern kann.Ich gebe zu, dass diese Überlegungen zunächst ernüchternd erscheinen. Die Existenzphilosophen sind nicht ohne Grund unbeliebt an deutschen Universitäten. Nichtsdestotrotz scheinen sie einen wunden Punkt zu treffen und wenn wir uns etwas näher mit ihnen beschäftigen, können sie einen unglaublichen Optimismus und eine neues Potential in uns wecken. Schauen wir uns also Camus Antwort an, warum Sisyphos angesichts seines trostlosen Schicksals dennoch nicht beschließt, sein Leben zu beenden. Camus behauptet doch tatsächlich, dass Sisyphos wieder zu einem glücklichen Menschen werden kann. Seine Philosophie ist also alles andere als ein Appell an den Suizid. Sie bringt uns vielmehr an den tiefsten Grund unserer Existenz, um uns dann mit voller Kraft wieder nach oben zu ziehen. Camus sagt, dass Sisyphos ab dem Moment wieder ein glücklicher Mensch wird, als er beschließt, sein Schicksal hinzunehmen und Camus bezeichnet das doch tatsächlich einen rebellischen Akt. Viel rebellischer wäre es doch, wenn Sisyphos den Göttern trotzt und einfach aufhört, den Stein nach oben zu rollen. Für Camus hingegen sieht der rebellische Akt eher folgendermaßen aus: „Ha! Ich weiß ganz genau, dass das, was ich da tue sinnlos ist, aber ich gebe nicht auf. Ich mache weiter und habe dabei sogar auch noch Spaß.“ Er trotzt den Göttern also, indem er seine Strafe gar nicht mehr als Strafe empfindet. Darüber sollten sie sich nun wirklich ärgern!

"Die höchste Form der Hoffnung ist die überwundene Verzweiflung."

Übertragen auf unser eigenes Leben bedeutet das also, dass wir dann glücklich werden, wenn wir die Sinnlosigkeit in ihrem vollen Ausmaß erkannt haben und unser Schicksal hingenommen haben. Ich persönlich bin nicht sicher, ob mich diese Antwort befriedigt. Überzeugender finde ich seinen zweiten Schritt. Existenzphilosophen haben den Ruf, dass sie sich zu viel mit dem lieben Selbst auseinandersetzen. Camus verlässt jedoch die Perspektive des Individuums und spricht auch über die soziale Dimension der Sinnlosigkeit menschlichen Lebens. Während das Individuum mit der Frage nach Suizid konfrontiert ist, ist die Gesellschaft vor eine andere, genauso gefährliche Herausforderung gestellt. „Warum soll ich überhaupt noch irgendetwas tun?“ kann nämlich noch auf eine andere Weise interpretiert werden. Sie kann gewissermaßen als ein „Freifahrtschein für Unmoralisch sein“ verstanden werden. Camus möchte jedoch genau so wenig an Un- oder Amoralität appellieren. Es ist ihm zufolge gerade die Solidarität, die uns hilft, unser Schicksal hinzunehmen. Sein zweiter Schritt liegt also im Übergang von der rein individuellen auf die soziale Perspektive. Nicht nur ich muss mir diese unbequemen Fragen immer und immer und immer wieder stellen, sondern auch alle anderen – sei es mein Freund, mein Feind, mein Nachbar oder ein Fremder. Das Wissen darüber lässt laut Camus ein Gefühl der Solidarität entstehen, dass uns helfen kann, Sinnkrisen zu überwinden.Die Revolte wird ebenfalls auf eine soziale Dimension übertragen. Nicht nur ein einzelner Mensch kann gegen sein Schicksal revoltieren, sondern auch eine ganze Gruppe von Menschen. Die Pest verkörpert für Camus das Leiden einer ganzen Gruppe von Menschen. Wie das ständige Hinunterrollen des Steines versinnbildlicht auch sie Sinnlosigkeit. Es scheint vergeblich, gegen sie anzukämpfen. Ist ein Mensch geheilt, wird der nächste krank. Die Menschen können dieses Schicksal jedoch hinnehmen und als geschlossene Gruppe weiterhin dafür kämpfen, dass sie eines Tages zurückgeht. Es kommt kurzum auf die richtige Haltung an. Für mich persönlich lässt sich diese Haltung nur als Hoffnung beschreiben. Es ist die Hoffnung darauf, dass der Stein eines Tages doch oben liegen bleibt und die Hoffnung, dass die Pest eines Tages allmählich abschwächt. Es ist die Hoffnung, die uns jeden Tag kämpfen, beten, leben und handeln lässt. Aber Hoffnung worauf? Sie scheint noch keine Antwort darauf zu sein, warum wir eigentlich am Leben sind und sie scheint auch nicht das zu sein, was uns Camus empfiehlt. Und gewissermaßen hat er Recht. Es gibt keine Antwort darauf. Das ist die schlimmste Erkenntnis des Philosophen und zugleich die Kraft, die ihn antreibt. Vermutlich müssen wir es einfach hinnehmen und eine positive Haltung dazu einnehmen. Aber wir sind so gerne Philosophen und damit Kämpfer und hoffnungsvolle Menschen.Im Frühjahr 2019 werden wir uns mithilfe Rainer Moritz‘ im Rahmen einer Denkwoche intensiver mit Albert Camus auseinandersetzen. Bis dahin und vor allem in der gemeinsamen Auseinandersetzung in Château d’Orion kann sich jeder fragen, was er von diesen Antworten hält und was seine eigenen Antworten auf diese existentiellen Fragen sind. Rainer Moritz hat bereits angekündigt, dass Camus nichts von seiner Aktualität verloren hat. Das liegt zum einen mitunter daran, dass es sich um die zeitlosesten aller Fragen handelt. Zum anderen vielleicht aber auch am Stellenwert, den er der Solidarität beimisst und damit an etwas, was uns heutzutage wieder alle näher zusammen rücken lässt. Wenn es um den tiefsten Grund unserer menschlichen Existenz geht, sind wir doch letztendlich alle gleich. Oder nicht? Von Lea Ransbach