Die Kraft des Geschichtenerzählens

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Es begegnet uns überall. In unserer Kultur, unseren Mythen, unseren Liedern, in den Medien, der Politik, in all den bewegten und stillen Bildern, in Vorträgen, Präsentationen und in der abendlichen Erzählung von dem, was wir tags erlebt haben. Storytelling ist Teil unseres Lebens, denn wir alle sehnen uns nach berührenden Geschichten, die vermitteln, die Orientierung geben, Sinn unterstellen und uns bisweilen auf Gedankenreisen schicken.Unter Anleitung des Filmproduzenten Ivan Engler wollen wir in einer Denkwoche vom 12. bis 18. Mai 2019 in die Kunst und der Kraft des Geschichtenerzählens eintauchen. Unsere Kolumnistin Lea Ransbach nahm dies zum Anlass, an einem Kurs für kreatives Schreiben teilzunehmen und hat eine Kurzgeschichte verfasst, die sich in Château d'Orion zuträgt. Lesen Sie selbst!

 Sie löste den Knoten ihrer Schürze und warf sie auf die Holzbank, die an der hintersten Wand der alten Küche lehnte. Unruhig lief sie in der Küche auf und ab, unfähig ihrer Arbeit nachgehen zu können. Auf der Steinplatte in der Mitte des Raumes, die als Ablagefläche diente, türmten sich noch die dreckigen Teller und Töpfe, die sie nach dem Mittagessen hier abgestellt, aber noch nicht angerührt hatte. Die alte Küche, die der Wärme mit ihren kalten Steinwänden immer zu trotzen schien, war noch erhitzt vom Brodeln der großen Töpfe und in der Luft hing der Geruch von Kürbissuppe und Ingwer. Sie durchquerte den Raum mit klopfendem Herzen, das sich allmählich beruhigte, wenn sie sich vom Speisesaal nebenan entfernte und das sich wieder beschleunigte und ihr den Atem zu rauben schien, wenn sie sich dem Raum nebenan wieder näherte. Aufgeregtheit und Unentschlossenheit hatten sich in ihr breit gemacht, seit sie wusste, dass sie im Raum nebenan für ein letztes Gespräch zusammengekommen waren. Entfernte sie sich, so dachte sie, sie würde übertreiben und könne sich einfach dazusetzen. Näherte sie sich wieder, packte sie die Angst, machte einen Rückzieher und beschloss, eine weitere Runde zu drehen.Heute war der letzte Tag eines Seminars, das in dem kleinen Schloss, in dem sie seit einiger Zeit lebte und arbeitete, stattfand. Sie veranstalteten häufiger solche Veranstaltungen und sie war jedes Mal aufs Neue fasziniert von diesen Zusammenkünften. Das Haus befand sich in einem kleinen Ort am Fuße der Pyrenäen, abgeschieden vom Rest der Welt. Darin lag sowohl sein Charme als auch sein Verhängnis. Hatten sie keine Veranstaltungen und keinen Besuch, dann fühlte sie sich schnell verloren zwischen all den Bergen. So nah am Atlantik konnte sich das Wetter außerdem schnell verändern. An Tagen, wo die Sonne hinter den Hügeln der Pyrenäen verschwand, Nebel und düstere Wolken sich über ihnen ausbreiteten und der Wind um das schöne Haus fegte, erlebte sie eine Einsamkeit, die sie zuvor nie gekannt hatte. Sie liebte es, wenn das Haus sich jedes Mal aufs Neue füllte, die Räume wieder wärmer wurden und das Stimmengewirr sie wieder aus ihrer Verlassenheit und zurück in die Realität holten. Mit jedem Mal entstand eine ganz neue Welt mit neuen Menschen und neuen Geschichten, die das Haus füllten und lebendig hielten. Sie hätte sich nicht erinnern können, einen anderen Ort gesehen zu haben, wo sich die Intimität zwischen den Menschen schneller einstellte als hier. Vielleicht lag es daran, dass die Menschen hier stärker das Bedürfnis hatten, näher zusammenzurücken. Vielleicht lag es daran, dass alle Tätigkeiten, auch wenn jeder seinen eigenen nachging, auf etwas Gemeinsames gerichtet waren. Vielleicht lag es daran, dass sich die Menschen während der Seminare, die hier stattfnden, leidenschaftlich auf ein gemeinsames Thema stürzten und das auf eine Weise, wie es den wenigsten in ihrem Alltag vergönnt war.Dieses Woche lautete das Thema „Hannah Arendt in Südfrankreich“. Sie war während solcher Veranstaltungen meist ununterbrochen beschäftigt. Sie musste sich um die Gäste, das Essen und andere organisatorische Aufgaben kümmern. Trotzdem versuchte sie jedes Mal, die Menschen zu beobachten, ein paar Worte oder gar einen ganzen Gedanken aufzuschnappen, um diese Eindrücke dann mitzunehmen. Dieses Mal war es das Bild einer rothaarigen Frau, die leidenschaftlich und ohne jede Scham sprach. Und es waren Begriffe wie Handeln, Person sein, Geschichten erzählen und Welt, die sie immer wieder gehört hatte, ohne zu wissen, warum sie für die Rothaarige und die sechs Studenten, die immer an ihren Fersen hefteten, so wichtig waren. Es gab noch andere Teilnehmer, aber es war diese kleine Gruppe, der sie in den letzten Tagen immer wieder neugierig hinter hergeschaut hatte. Sie hatte beobachtet, wie diese sieben Menschen zwischen den Vorträgen und Diskussionen immer wieder in die Küche gekommen waren, um sich einen Tee zu machen, der die tiefsitzende Kälte vertreiben sollte. Vielleicht war die Kälte aber auch nur ein Vorwand, um sich von der Menschenmasse zurückziehen zu können und das immer in Bewegung bleibende Gespräch in der kleinen Gruppe fortsetzen zu können. Sie war hingerissen von ihrer Begierde, immer wieder aufeinanderzutreffen und an irgendeinem Punkt wieder einsetzen zu können. Sie hatte sie auch abends beim Abendessen im großen Speisesaal beobachtet, während sie immer wieder den Raum betreten hatte, um neue Speisen aufzutischen oder um den Tisch abzuräumen. Der Speisesaal war erhitzt, das Stimmengewirr jedes Mal laut und alle reichten sich fröhlich die Speiseplatten zu, um sich dann anschließend gierig auf ihre Teller zu stürzen als hätten sie seit Tagen nichts gegessen.Diese sieben Menschen saßen nun am großen runden Tisch im Raum nebenan. Sie war begierig darauf, sich mit ihnen an den Tisch zu setzen und ihren Worten zu folgen, aber sie traute sich nicht. Die sieben waren so vertraut miteinander, wussten wovon sie sprachen, hatten alle eine eigene Meinung und hatten keine Probleme, diese auch laut zu auszusprechen. Sie selbst hatte nicht das Gefühl, mit ihnen mithalten zu können. Sie schämte sich sogar bei der Vorstellung, sich einfach dazuzusetzen. Was würden sie über sie denken? Sie würden sie vermutlich verwirrt anschauen und lachen sobald sie den Mund aufmachte. Aber das würde sie vermutlich sowieso nicht tun. Sie war es nicht gewohnt, vor anderen Menschen zu sprechen. Sie behielt ihre Gedanken zumeist für sich, schrieb sie in ihr Tagebuch oder redete manchmal mit einer einzelnen Person darüber. Vor einer Gruppe von Menschen zu sprechen machte ihr Angst. Sie hatte das Gefühl, es würde ganz still um sie werden und alle würden sie erwartungsvoll anschauen. Diese Stille, Aufmerksamkeit und Erwartung konnte sie schwer ertragen. So bevorzugte sie es meistens, im Hintergrund des Geschehens zu bleiben. Sie beobachtete lieber und hörte aufmerksam zu, brachte sich jedoch selten ein.Diese junge Frau hätte später nicht sagen können, was ihre Entscheidung schließlich ausgelöst hatte, aber aus irgendeinem Grund griff sie nach einem Tablett, nahm acht Tassen aus dem Schrank, brühte Wasser auf und balancierte das Tablett auf zitternden Händen in Richtung des Speisesaals. Sie steuerte langsam auf den Tisch zu, stellte das Tablett ab, reichte jedem eine Tasse und nahm sich schließlich die letzte. Sie setzte sich, ihr Blick auf den Tisch gerichtet. Sie wusste, dass die Rothaarige ihr gegenüber saß. Sie traute sich nicht, ihren Blick zu heben. Schauten sie sie alle an? Oder, noch schlimmer: tauschten sie Blicke untereinander aus und machten sich über sie lustig? Es war eine Zeit lang still und sie versuchte es so aussehen zu lassen, als nippe sie konzentriert an ihrem Tee. Sie wusste, dass sie einen hochroten Kopf haben musste, das passierte ihr öfter. „Bitte, bitte, schaut mich nicht an. Redet weiter.“, dachte sie und das taten sie glücklicherweise tatsächlich. Als sie die Stimmen um sich herum wieder hörte und spürte, wie sich die Aufmerksamkeit von ihr abgewandt hatte, entspannte sie sich langsam. Sie konnte wieder Atmen, ihr Rücken wurde wieder weicher und die Röte in ihrem Gesicht schien langsam zu verschwinden. Jedenfalls fühlte sich ihr Kopf nicht mehr ganz so heiß an.Ein Wort tauchte in dem Gespräch immer wieder auf. Handeln. Sie hatte es in diesen letzten Tagen schon öfters gehört. „Was Arendt unter Handeln versteht, versteht man nur, wenn man sich auch ihre Begriffe des Arbeitens und Herstellens näher anschaut.“, sagte die Rothaarige. „Arbeiten, Herstellen und Handeln sind diejenigen Tätigkeiten, denen sich kein Mensch enthalten kann. Der Mensch ist Mensch, indem er arbeitet, herstellt und handelt. Im Handeln entfaltet sich der Mensch im höchsten Maße. Im Handeln offenbart er vor anderen, wer er ist. Interessant, oder?“, sie machte eine Pause. „Die meisten Philosophen würden doch eher sagen, die Vernunft sei das, was den Menschen auszeichnet.“ Die Studenten nickten zustimmend. „Wer behauptet denn zum Beispiel, dass sich der Mensch durch Vernunft auszeichnet?“ Die junge Frau wusste es nicht, wandte ihren Blick von der Rothaarigen ab und schaute auf ihre Tasse Tee. „Kant.“, sagte eine Studentin. „Aristoteles.“, sagte ein anderer. „Zwei der größten Philosophen, genau. Und jetzt behauptet Arendt, der Mensch entfalte sich vor allem im Handeln? Das ist doch schon interessant…Aber was genau meint Arendt mit Handeln?“ Sie hielt kurz inne, bevor sie weiter sprach. „Vielleicht müssen wir noch einen Schritt vorher ansetzen. Arendt sagt, dass diese drei Tätigkeiten, das Arbeiten, Herstellen und Handeln, deshalb Grundtätigkeiten sind, also Tätigkeiten, an denen kein Mensch vorbeikommt, weil sie den Grundbedingungen menschlichen Lebens entsprechen.“ Sie machte wieder eine kurze Pause. „Was sind eurer Meinung nach die drei Grundbedingungen menschlichen Lebens?“ „Dass der Mensch genug zu essen hat.“, sagte ein Student und lachte. Die Rothaarige nickte. „Dass der Mensch sich weiter fortpflanzt.“, sagte eine andere. „Dass er ein Dach über dem Kopf hat.“, sagte wieder eine andere. Die Rothaarige nickte. Auch die junge Frau nickte interessiert, ihre Art zu zeigen, dass sie aufmerksam zuhörte und dem Gesagten zustimmte. „Ja, genau. Das würde auch Arendt sagen. Das Arbeiten sichert unser Überleben, z.B. dadurch, dass wir uns etwas zu Essen kaufen können. Das Herstellen errichtet eine Welt von Gegenständen, die uns überdauern und somit eine Welt, in der wir und auch nachfolgende Generationen zu Hause sein können. Sie spricht aber noch etwas an, was keiner von euch genannt hat. Etwas, was sich auch zwischen Vergangenheit und Zukunft bewegt, sich aber vor allem auf das Hier und Jetzt bezieht.“ „Spaß oder Glück.“, rief eine Studentin herein. Die junge Frau war genervt. So hatte sie gar keine Zeit sich ihre eigenen Gedanken zu machen. „Ja, so etwas wie Gut-Leben.“, stimmte eine andere Studentin zu. „Nicht ganz, auch wenn es sicherlich etwas damit zu tun hat…Pluralität, würde Arendt sagen.“ Alle schauten überrascht auf. „Ja, auch das scheint nicht der Common Sense in der Philosophie zu sein, nicht wahr?“, sagte die Rothaarige lachend. „Pluralität bedeutet für Arendt, dass nicht ein Mensch, sondern Menschen die Erde bevölkern.“, sie schluckte und sprach weiter. „Mehr noch: jeder Mensch ist jeweils einzigartig und so unterscheidet sich jeder Mensch von allen anderen Menschen.“ „Und inwiefern ist das eine Grundbedingung?“, fragte ein Student. „Naja, weil wir nichts dagegen tun können, dass wir in eine Welt unterschiedlichster Menschen hineingeboren werden. Wir müssen damit leben, mit anderen leben und Verständigung suchen.“ Die junge Frau schaute die Rothaarige an und nickte. „Wir sind also gewissermaßen gezwungen zu handeln.“Die junge Frau war fasziniert von dieser Rothaarigen. Obwohl sie selbst nicht viel über Philosophie wusste, war dies nicht ihr erstes philosophisches Gespräch, das sie miterlebt hatte. Sie hatte zuvor in einem kleinen Café gearbeitet, in dem jeden Sonntagvormittag philosophische Diskussionen stattfanden. Es war eines derjenigen Ereignisse in dem kleinen Dorf, aus dem sie kam, bei denen sich die vermeintlich klügsten Köpfe der Stadt herausputzten und mit ihren schicksten Brillen und Notizblöcken in das kleine Café strömten. Sie hatte an diesen Diskussionen nie teilgenommen, empfand jedoch auch zu dieser Zeit schon eine gewisse Bewunderung für diese Leute, die sich provokativ zurücklehnten und nichts taten als zu denken. Sie musste schmunzeln als die daran dachte, wie sich ihre Chefin immer darüber aufgeregt hatte. „Und dann noch diese Arroganz.“ Sie wusste, was sie meinte. Es waren diese klugen Köpfe, die ganz besonders hohe Ansprüche an ihren Kaffee, die entsprechende Zubereitung und die Auswahl der Tassen hatten. Mit gespitzten Lippen nippten sie dann an ihren Kaffees und so manche hinterließ provokativ einen Rest roten Lippenstift.Das Gespräch mit der Rothaarigen war jedoch anders als so viele dieser Gespräche, die sie aus dem Café kannte. Auch wenn sie dort immer nur mit halbem Ohr zuhörte, wusste sie ungefähr, wie die Gespräche abliefen. Es gab zwei bis drei Männer in der Runde, die irgendwann das Wort ergriffen und nicht mehr losließen. Ihr Vater hatte dieses Phänomen immer „Ko-Referat“ genannt und sie begriff erst jetzt, was er eigentlich damit meinte. Diese Männer, denn dieses Phänomen war bei Frauen tatsächlich seltener anzutreffen, wollten einfach gerne reden. Sie wollten gehört und gesehen werden. Jeden Sonntag suchten sie für diesen Anlass ihre schicksten Anzüge heraus. Dieses Gespräch aber war anders gewesen. Hier hatte keiner geredet, um zu reden. Sie hatten über etwas und miteinander geredet. Die Rothaarige leitete sie zwar, stellte Fragen, erzählte etwas, war dabei aber nie aufdringlich und gab ihnen Raum, darüber nachdenken zu können. Sie hatte noch nie zuvor das Gefühl gehabt, jemandem auf Schritt und Tritt in seinen Gedanken folgen zu können. Die Rothaarige ging vor, wartete kurz, sodass sie sie einholen konnte holte und jeder weitere Schritt machte Sinn. Sie wurde richtig gereizt, wenn einer der Studenten etwas dazwischen rief und dieses gemeinsame Denken mit der Rothaarigen störte. Sie hatte das Gefühl, die Rothaarige habe einen roten Faden, dem sie folgte. Sie hatte das Gefühl, bei jedem weiteren Schritt, jedes Mal, wenn sie etwas Neues verstanden hatte, mache es regelrecht „Klick“ in ihrem Kopf. Das gefiel ihr.Wenn Stille eintrat, redete die Rothaarige weiter. Sie überrollte sie dabei jedoch nicht, sondern wählte behutsam ihre Worte. „Worte bringen das Denken in Gang.“, sagte sie manchmal. Und es war wirklich so. Es verschaffte Zeit, um noch einmal über das Gesagte nachzudenken, ohne dass sich sofort jemand anderes hätte zu Wort melden können. Das Gespräch kam nie zum Stillstand. Es pausierte, drehte sich im Kreis, ohne ununterbrochen nach vorne zu gehen, aber dennoch blieb es in Bewegung.„Welche weiteren zwei Grundbedingungen könnte es geben, die die drei Grundtätigkeiten des Arbeitens, Herstellens und Handelns nochmal umschließen? Diejenigen Grundbedingungen menschlichen Lebens schlechthin?“, fragte sie nun. Die junge Frau dachte nach. Die Bedingungen des menschlichen Lebens schlechthin. War es nicht die Tatsache, dass alle Menschen irgendwann sterben müssen? Da hörte sie, wie eines der Mädchen, das ihr gegenüber saß, genau das sagte. „Ist es nicht unsere Sterblichkeit?“ „Ja, genau. Arendt nennt es unsere Mortalität.“, sagte die Rothaarige. „Neben dem Begriff der Mortalität verwendet Arendt jedoch noch einen weiteren Begriff, den der Natalität, d.h. der Gebürtlichkeit. Sie geht also, anders als andere Philosophen, nicht nur von der Tatsache aus, dass wir eines Tages sterben werden, sondern auch davon, dass wir eines Tages als Neuankömmling in die Welt gekommen sind. Mortalität und Natalität rahmen gewissermaßen unser Leben und somit die drei Grundtätigkeiten ein.“ Die Rothaarige schloss einen Kreis um ihre angelegte Begriffskette, indem sie noch einmal kurz zusammenfasste. „Arendt hat eine Stärke dafür, viele Begriffe schnell und einfach in Verbindung zu bringen.“, sagte sie anschließend. Die junge Frau lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und bemerkte, wie auch alle anderen für einen kurzen Moment Luft holten und in sich zusammensackten, um sich dann wieder konzentriert aufzurichten, die Köpfe auf den Händen aufgestützt. Die Rothaarige nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, bevor sie wieder zum Reden ansetzte.„Was aber versteht Hannah Arendt nun unter Handeln?“ Es war eine rhetorische Frage, denn sie setzte sogleich wieder an. „Ich hatte gesagt, es sei nur zu verstehen, wenn man weiß, was Arendt unter Arbeiten und Herstellen versteht. Das Arbeiten ist einem Kreislauf unterworfen. Wir arbeiten, um zu überleben. Das Herstellen hinterlässt eine Welt von Dingen, die überdauert und die uns ein Zuhause ist. Beide sind auf einen bestimmten Zweck hin gerichtet. Das Handeln hingegen ist etwas vollkommen Offenes und das, was für Arendt letztendlich Sinn stiftet.“ Sie machte eine Pause. Die junge Frau verstand nicht ganz. „Inwiefern ist es das Handeln, was Sinn stiftet und was bedeutet es überhaupt, dass das Handeln Sinn stiftet?“, fragte eine der Studentinnen. „Nun, das Arbeiten und Herstellen sichert gewissermaßen das Leben der Menschen. Würden Menschen aber immer nur arbeiten und Dinge herstellen, dann würde doch letztendlich überhaupt nichts mehr in der Welt passieren. Das, was die Welt der Menschen letztendlich füllt, sind die Geschichten, die Menschen hervorbringen oder die man sich über Menschen erzählt. Dafür aber müssen Menschen handeln und sprechen und zwar in einem Raum, wo sie gesehen und gehört werden. Das kann durchaus Mut erfordern, sagt auch Arendt.“ „Also zum Beispiel so, wie hier in unserer Gruppe?“, fragte ein Student. Die Rothaarige lachte. „Nein, nicht ganz. Für Arendt kann es das Handeln nur im öffentlichen, politischen Raum geben. Wir sind hier zwar immerhin schon umgeben von anderen und tauschen uns aus, aber hier sind wir doch noch recht abgeschnitten von der Welt. Man könnte vielleicht sagen, es ist einer jener Orte, an denen wir uns aufwärmen, Kraft tanken, neue Ideen entwickeln, um dann wieder nach draußen gehen zu können.“ „Das heißt, irgendwann muss jeder rausgehen?“ „Für Arendt ja. Irgendwann sollte jeder nach außen treten.“Die junge Frau fühlte sich vollkommen erschöpft, seit die Rothaarige gegangen und das Gespräch am runden Tisch beendet war. Es war jedoch ein gutes Gefühl. Obwohl sie so viel aufgenommen hatte, fühlte sich ihr Kopf freier denn je an. Sie hatte das Gefühl, das Gespräch habe Platz geschaffen für etwas Neues. Ganz anders als nach den Gesprächen mit ihrem Vater, nach denen sie sich immer wie überfahren gefühlt hatte. Platt und zerdrückt. Wenn dieser seinen Monolog beendet hatte, und sie am Ende fragte: „Und, was sagst du denn dazu?“, blieben ihr immer die Worte im Hals stecken und sie war so blockiert, dass sie ihm nicht antworten konnte. Jetzt aber konnte sie frei atmen und die Masse an Sauerstoff, die sie einatmete, löste ein kribbeliges Gefühl in ihrem Bauch aus. Sie hatte große Lust, lauthals zu lachen. Sie verstand jetzt: ihr Vater war selbst einer der größten Ko-Referenten. Sie hasste Ko-Referenten.Anders als die anderen hatte die junge Frau den Speisesaal sofort verlassen und sich nicht mehr von der Rothaarigen verabschiedet. Sie wusste nicht, wie sie der Rothaarigen gegenübertreten sollte. Sie hatte ihr die ganze Zeit über mit erhitzten Wangen an den Lippen gehangen. Während die Studenten dem Denken der Rothaarigen immer schon einen Schritt voraus waren und sie überrollten, hatte sie sich dem Denktempo der Rothaarigen vollkommen angepasst. Sie empfand es als eine unangenehme Störung, wenn einer der Studenten zu schnell war und sie einfach unterbrach. Sie hatte das Gefühl, jeden Schachzug, den die Rothaarige in ihren Gedanken vornahm, nachvollziehen zu können als sei es ihr eigener und dennoch fiel es ihr unglaublich schwer, ihre eigenen Gedanken dazu zu formulieren. Durch diese Verbundenheit in ihren Gedanken hatte sie das Gefühl, dass sich zwischen ihnen eine besondere Intimität eingestellt hatte. Nachdem das Gespräch beendet war, wusste sie nicht, wie sie mit dieser Intimität umgehen sollte. Und es kam noch etwas hinzu, für das sie sich zunächst schämte: sie hatte sich während des Gespräches gefühlt, als sei sie in einem Rauschzustand, als hätte sie sich vollkommen gehen und tragen lassen. Jetzt wo sie wieder kontrolliert war, schämte sie sich dafür. Sie schämte sich für noch etwas: dafür, dass sie sich selbst so schwer tat, vor anderen Menschen zu sprechen, selbstbewusst rauszugehen und dort zu handeln, wo sie jeder sah. Welche Geschichten würden die Menschen aber über sie erzählen?Sie durchquerte den Hausflur in der Hoffnung, niemandem über den Weg zu laufen. Sie öffnete die Tür und spürte den kalten Wind auf ihren heißen Wangen. Sie setzte sich auf die Bank vor dem Schloss und das kleine Tal zwischen den Bergen tat sich unter ihr auf. Mit einem Mal packte sie endgültig ein gewaltiges Lachen. An diesem Nachmittag war jedoch niemand da, der sie auf der Bank sehen und ihr Lachen hören konnte. Keiner würde davon erzählen.Doch sie hatte sich geirrt. In einem der Fenster des ersten Stockes trat eine alte Dame hinter dem grünen Vorhang hervor und schaute hinaus. Eine Frau, die beschlossen hatte, nicht nur das Haus, sondern auch ihr Zimmer nicht mehr zu verlassen. Ihre Chanel-Kostüme hatte sie sorgfältig in den Schrank gehängt. Den roten Lippenstift, den sie damals so gerne getragen hatte, hatte sie behutsam in eine Schublade gelegt. Und nun wartete sie, dass ihre Geschichte zu Ende ging. Als sie Marianne unten lachend auf der Bank sitzen sah, musste sie schmunzeln. Es hatte sich etwas verändert. Diese junge Frau würde das Schloss bald verlassen, dachte sie.