Leben, um davon zu erzählen
Wer schon einmal im Château d’Orion bei einer Denkwoche dabei war, weiß, wie gerne wir unseren Stoff mit Geschichten anreichern. Und wie gut das tut, weil sich darin die einzige Möglichkeit spiegelt, Komplexität darzustellen, ohne zu verzweifeln. Reduzieren können wir sie bekanntlich nicht, denn auch ein Elefant in Scheiben bleibt ein Elefant und damit ein riesiges, mächtiges, graues Tier.Eine Geschichte aber, eine poetische Betrachtung, eine romanhafte Beschreibung, bringt uns dagegen die Welt in einer Nussschale dar. So habe ich neulich in einer Radiosendung gehört, dass inzwischen im Gefängnis zur Resozialisierung den Insassen ein Buch verordnet wird, das dann gemeinsam analysiert wird. Zudem werden Theaterstücke längst als Coaching-Tool verwendet. Genauso wie die „Urszenen der Philosophie“, bei deren Durchdringen wir mit Rüdiger Safranski wieder jeweils eine Tür zum Anders-Denken öffnen konnten. So geschehen im Sommer vergangenen Jahres.Selbst wenn Ernst Peter Fischer mit uns eine Reise durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse macht, verknüpfen wir die Disziplinen wie es zum ganzheitlichen Denken gehört. Fischer traut sich Titel zu wie „Einstein trifft Picasso und geht mit ihm ins Kino“. Er macht es sich nicht einfach, aber er macht es uns leicht, zu staunen. Als Wissenschaftstheoretiker ist er ein Verfechter der Komplementarität und trifft damit den Kern der Denkwochen:
„Die Komplementarität ist meiner Ansicht nach wichtiger als jeder Ansatz, den wir haben, auch wenn wir es in unserem Kulturkreis noch nicht wissen. Das östliche Denken hat die Idee der sich ergänzenden Gegenstücke schon länger in sich aufgenommen und ihm als Yin-Yang-Symbol auch einen angemessenen – künstlerischen – Ausdruck verliehen. Das westliche Denken laboriert statt dessen immer noch an dem Schnitt herum, den René Descartes (1596-1650) ihm verpasst hat, als er die Seele aus dem Körper löste. Seitdem trennen wir uns als Subjekte von der Welt der Objekte, die wir der Wissenschaft überlassen – mit dem Ergebnis, dass wir als fühlende Menschen in ihr nicht mehr vorkommen undausgeschlossen bleiben.Bohrs Komplementarität versucht, diese Spaltung zu überwinden, ohne ihre dazugehörenden Gegensätze zu verwischen. Ich denke, die wichtigste Entdeckung der vergangenen christlichen Jahrtausende besteht in der Einsicht, dass die alte Idee der polaren Gegensätze eine neue Form braucht. Mit dieser Vorgabe liegt die wichtigste Aufgabe der abendländischen Kultur darin, ihr eigenes Symbol für das Denken zu finden, das mich in der Welt und uns beide zusammen hält. Unsere Kultur muß dies bewusst tun und dabei das Beste aufbieten, das sie hat, nämlich die komplementären Formen der Erkenntnissuche, die wir Kunst und Wissenschaft nennen. Zusammen ergeben sie die Humanität, die unsere Kultur auszeichnen könnte. Aber diese Erfindung müssen wir noch machen."
Danke Ernst-Peter Fischer, mit Freude möchten die Denkwochen und alle ihre Mitdenker und -denkerinnen zu dieser Erfindung beitragen!Fischer_Nacht_U4